Schattenriss
mir, ich habe keine Ängste, die für diese Sache relevant wären«, sagte Lieson nach einer Weile.
Sind Sie da ganz sicher?, hörte Verhoeven im Geist bereits Goldsteins nächste Frage, doch zu seiner größten Überraschung änderte der erfahrene Unterhändler ebenso plötzlich wie radikal die Taktik.
»Beraten Sie auch?«
»Sie meinen beruflich?«
»Ja, beruflich.«
»Natürlich. Das ist mein Job.«
»Und?«, versetzte Goldstein mit einem durchaus sehr charmanten Lächeln. »Haben Sie schon mal jemanden ruiniert?«
Lieson blieb vor Verblüffung beinahe die Luft weg. »Was?«
Doch Goldstein dachte überhaupt nicht daran, seine provokante, wenn auch nicht ganz unberechtigte Frage zu wiederholen. »Eine meiner Töchter hat Medizin studiert«, verkündete er stattdessen in munterem Plauderton. »Sie war fleißig und gewissenhaft und ergatterte ohne Mühe eine Assistenzarztstelle an der Bonner Uniklinik.« Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und sah Walther Lieson über den Tisch hinweg an. »Haben Sie Kinder?«
»Ja«, erwiderte der Filialleiter lakonisch. Und seine Miene ergänzte: Das wissen Sie doch längst .
»Macht einen als Vater mächtig stolz, wenn der Nachwuchs so gut gedeiht, nicht wahr?«
Pause.
Worauf will der Kerl hinaus?, las Verhoeven in Liesons Augen.
»Aber ob Sie’s glauben oder nicht«, setzte Goldstein seine Rede mit unschuldiger Miene fort. »Eines Abends ruft mich meine Tochter an. Sie ist in Tränen aufgelöst, und ich frage, was passiert ist. Und wissen Sie, was sie geantwortet hat?«
»Nein«, entgegnete Lieson zähneknirschend. Offenbar hatte er wenig Lust auf ein Frage-und-Antwort-Spielchen wie dieses.
»Sie sagte, dass einer der Oberärzte sie gefragt hat, wie viele ihrer Patienten sie denn schon umgebracht hätte.«
Na und?, sagte Liesons Blick. Was hat das mit mir zu tun? »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, bemerkte Goldstein im selben unverbindlichen Ton wie zuvor. Doch dann wurde sein Blick von einer Sekunde auf die andere steinhart. »Also verraten Sie mir nur eins: Wie viele Menschen haben Sie in den letzten Jahren absichtlich oder unabsichtlich in den Ruin getrieben?«
»Wir stehen unseren Kunden grundsätzlich nur beratend zur Seite«, entgegnete Lieson. »Die Entscheidung für oder gegen eine Investition liegt immer bei dem, der sie tätigt.«
»Gut möglich, dass einige Ihrer Kunden das anders sehen, meinen Sie nicht?«, versetzte Goldstein.
Der Banker antwortete mit einem knappen Achselzucken. »Tja, nicht zu ändern.«
Goldstein nippte an seinem Kaffee und fragte dann halb ironisch, halb ernst: »Sie haben nicht zufällig einen Zwillingsbruder?« »Nicht, dass ich wüsste.«
»Andere Geschwister?«
»Ich habe zwei Schwestern.« Der Banker machte eine erwartungsvolle Pause, vielleicht, weil er darauf wartete, dass Goldstein von sich aus die nächste Frage stellen würde.
Doch der Unterhändler schwieg. Er sah seinen Gesprächspartner nicht einmal an, sondern blickte so konzentriert in seinen Kaffeebecher hinunter, als sei dort die Antwort auf alle Rätsel der Menschheit verzeichnet.
»Irmgard, meine ältere Schwester, ist vor einem Jahr verstorben«, erklärte Lieson, als ihm die Stille zu lange dauerte. »Lina, die jüngere, lebt in Flensburg.«
»Ist sie verheiratet?«
»Geschieden.«
»Kinder?«
»Nein.« Der Banker überlegte einen Augenblick, bevor er zögerlich hinzufügte: »Irmgard hatte eine Tochter. Soweit ich weiß, lebt sie als Malerin auf Korsika.«
»Und was ist mit Ihrer ersten Frau?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Keine Ahnung. Sagen Sie’s mir.«
»Ich weiß nicht genau, was sie macht«, antwortete Lieson mit einem verkniffenen Lächeln. »Wahrscheinlich gar nichts, ganz wie immer.«
Was für eine herzliche Bemerkung, dachte Verhoeven bei sich.
»Sie wohnt in der Nähe von Ulm.«
»Und sie arbeitet nicht?«, hakte Goldstein nach, während Verhoeven sich zu fragen begann, was das alles mit ihrem Fall zu tun hatte.
»Meine Exfrau hat noch nie gearbeitet«, erklärte Lieson. »Dafür kauft sie gern auf anderer Leute Kosten ein und trinkt mehr, als gut für sie ist.«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihr?«
»Ganz bestimmt nicht freiwillig.«
Goldstein sah den Banker erwartungsvoll an. »Das bedeutet im Klartext?«
»Johanna ruft hin und wieder bei uns an und beschimpft meine Frau«, antwortete Lieson ohne erkennbare Emotionen.
»Und warum besorgen Sie sich keine neue Telefonnummer?«
»Warum sollte ich?«, gab der
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