Schattenschmerz
nicht zur Obduktion kommen?»
«Ewerts hat sich für heute krankgemeldet. Er hat sich im Park unterkühlt.»
Steenhoff unterdrückte eine Bemerkung. Joachim Ewerts gehörte in seinen Augen schon lange nicht mehr ins 1. Kommissariat. Bereits die leiseste Erkältung haute ihn um. Sobald ein Tatort im Freien lag, war es eine Frage von Stunden, bis der hünenhafte Mann über erste Beschwerden klagte. Steenhoff beobachtete Hans Jakobeit verstohlen. Er schien es Ewerts nicht übelzunehmen, dass er mal wieder für ihn einspringen musste. Dabei gehörte Ewerts zu den Kollegen im Kommissariat, die sich gerne über den schweigsamen und ernsten Jakobeit lustig machten. Tatsächlich schien der Kollege jede überflüssige Bemerkung zu vermeiden. Auch jetzt stand er nur kerzengerade im Flur und wartete darauf, dass es losgehen würde. Sein Blick schien nach innen gerichtet.
Er sieht aus wie ein Trauergast auf einer Beerdigung, dachte Steenhoff. Es würde schwer werden, wieder an die lockere Atmosphäre mit dem Präparator anzuknüpfen, um seine eigene innere Anspannung einen Moment lang zu vergessen. Jakobeits Anwesenheit ließ keinen Raum für Scherze.
Steenhoff hätte von seinem Kollegen gern erfahren, was die Tatortarbeit in den vergangenen zwei Stunden ergeben hatte. Aber vor dem Präparator wollte er keine Details austauschen. Dankbar ging er auf das Angebot Michael Franzens ein und ließ sich zu einem Stück Butterkuchen und einer Tasse Kaffee einladen. Jakobeit lehnte höflich ab, gratulierte aber förmlich.
Sie mussten länger auf Bernd Brückner warten als angekündigt. Doch statt seine Verspätung zu entschuldigen, blieb er kurz angebunden und erklärte: «In fünf Minuten geht’s los.» Dann verschwand er in seinem Büro.
Franzen warf Steenhoff einen verwunderten Blick zu. Doch Steenhoff zuckte nur mit den Achseln. Er hatte es schon lange aufgegeben, alle Launen und Stimmungen des Rechtsmediziners zu interpretieren. Brückner galt als schwierig. Letztlich bekam Steenhoff aber immer die Informationen von ihm, die er brauchte.
Als sie fünf Minuten später zu viert in den Obduktionssaal gingen, wusste Steenhoff wieder, was er Michael Franzen noch fragen wollte.
«Was flüstern dir deine Geburtstagsgäste zu?»
Der Präparator, der sich gerade eine weiße Schürze überzog, stutzte. Dann lehnte er sich vor und sagte mit so leiser Stimme, dass es nur Steenhoff verstehen konnte: «Carpe diem.»
Auf dem Weg ins Präsidium erreichte Steenhoff ein Anruf von Navideh Petersen. Sie klang zerknirscht. Frederike Balzer hatte recht gehabt. Tatsächlich hatte Petersen das Klingeln ihres Handys nicht gehört, da es ihr beim Auspacken einer Bücherkiste in einen Karton mit Wäsche gerutscht war.
«Ich habe mein Handy erst heute Vormittag wiedergefunden», sagte Petersen entschuldigend. «Als ich die Nummer vom Dauerdienst gesehen habe, schwante mir Böses.»
«Wo bist du jetzt?»
«In der Moselstraße in der Neustadt. Ich versuche, drei junge Radfahrer ausfindig zu machen. Sie hatten sich kurz vor der Explosion bei einem Polizisten erkundigt, warum der Park gesperrt sei. Er hat sie weggeschickt. Aber vielleicht haben sie etwas beobachtet. Angeblich soll einer von ihnen hier in einer Studenten- WG wohnen.»
Sie verabredeten, dass Petersen zur ersten Besprechung am Nachmittag ins Präsidium kommen sollte.
Vorher wollte Steenhoff unbedingt noch eine erste, kurze Zusammenfassung von der Tatortgruppe erhalten. Da er wusste, dass der Bericht noch nicht fertig sein konnte und sich der Leiter der Gruppe am Telefon immer sehr bedeckt hielt, entschloss er sich, ihn persönlich in seinem Büro aufzusuchen.
Steenhoff war froh, dass die Tatortgruppe im selben Gebäude wie das 1. Kommissariat lag. Auf der Treppe wurde ihm flau im Magen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er bis auf das Stück Butterkuchen den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Der Blick aus dem Fenster verhieß nichts Gutes. Draußen hatte ein leiser Nieselregen eingesetzt.
Steenhoff überlegte einen Moment lang, ob er sich seine Jacke aus dem Büro holen sollte, entschied sich aber dagegen. Mit großen Schritten rannte er über den Parkplatz bis zum Eingang der Kantine. Das Mittagessen und das Salatbüfett waren längst weggeräumt. Nur ein paar Süßigkeiten und zwei Brötchenhälften lagen in der Auslage. Welke Salatblätter klebten auf den Wurstscheiben.
Steenhoff zögerte, dann griff er resigniert zu den Brötchen und nahm sich vor, am Abend etwas
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