Schattenschmerz
Lieblingstageszeitung durch. Es war ihr abendliches Ritual nach der Arbeit, so wie für andere das Glas Wein. Zehn Minuten Headline-Hopping. Tatsächlich genügte es ihr, von manchen Themen nur die Schlagzeilen zu lesen. Sie musste nicht die Details von jedem Familiendrama, jeder Firmen-Insolvenz wissen. Interessierte sie ein Thema tiefer gehend, würde sie es am nächsten Tag in den Zeitungen nachlesen.
Tatsächlich gab es im News-Portal des
Spiegels
eine neue Nachricht aus Bremen. Wieder ging es um dieses Attentat. Ein Bekennerschreiben war aufgetaucht. Chris Lorenz überflog die Zeilen. Ungläubig las sie die Nachricht ein zweites Mal. Dann griff sie zum Telefon.
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14
Ohne anzuklopfen riss Frank Steenhoff die Bürotür auf.
«Und, wie weit seid ihr?», fragte er und war schon eingetreten.
Erschrocken sah Stephan Wettwick hoch. Als er Steenhoff erkannte, schüttelte er unmerklich den Kopf. «Nicht viel weiter als vor einer Stunde, Frank.»
Der Kriminaltechniker ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Er musste seine Beweisstücke systematisch unter die Lupe nehmen. In seiner Abteilung waren sie es gewohnt, dass Ermittler ungeduldig bei ihnen auftauchten oder sie permanent mit Anrufen unter Druck setzten. Letztlich hatte er sich aber alle erzogen. Schließlich konnte er auch nicht mehr als arbeiten.
Wettwick musste auf kleinste Abweichungen achten, auf minimale Unterschiede zur Norm. Er durfte sich nicht treiben lassen von der Ungeduld der Ermittler. Bislang hatten das alle aus der Mordkommission auch irgendwann begriffen. Nur Frank Steenhoff schien davon überzeugt, dass sie bei der Kriminaltechnik eine ruhige Kugel schoben, wenn er nicht ständig in ihrem Büro auftauchte.
«Wie lange brauchst du noch, Stephan? Wann kannst du uns erste Ergebnisse liefern?», drängte Steenhoff.
Statt einer Antwort zuckte Wettwick nur die Schultern und widmete sich wieder dem Schriftstück, das vor ihm lag. Er beschloss, seinen Kollegen einfach zu ignorieren. Eigentlich hatte er Steenhoff noch nie ausstehen können. Bei Abschieds- oder Geburtstagsfeiern im Präsidium klinkte sich Steenhoff oft aus. Vermutlich waren ihm seine Kollegen nicht fein genug. Oder nicht intelligent, nicht schnell genug. Sollte er diesmal zappeln und seine Lektion lernen.
«Du bist mir noch eine Antwort schuldig», hörte er Steenhoff sagen.
«Es braucht die Zeit, die es braucht, Frank.»
Wettwick hatte seiner Stimme bewusst einen arroganten Unterton verliehen. Genüsslich stellte er sich Steenhoffs Gesichtsausdruck vor: angespannt, mit mühsam unterdrückter Empörung. Wettwick wartete darauf, dass der Ermittler wütend aus dem Raum laufen und die Tür hinter sich ins Schloss knallen lassen würde.
Noch immer hatte er seinem Besucher den Rücken zugedreht, während er tat, als würde er konzentriert weiterarbeiten. Daher kam die Reaktion seines Kollegen für ihn völlig überraschend.
Plötzlich stand Steenhoff direkt hinter ihm. Er riss so heftig an dem Bürostuhl, dass Wettwick zu ihm herumgewirbelt wurde.
‹Das geht zu weit!›, dachte Wettwick und wollte aufspringen. Doch Steenhoff drückte ihn roh zurück in den Stuhl.
«Hör zu, Stephan», zischte er. «Ich mag dich nicht. Und du magst mich nicht. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Unsere gegenseitigen Animositäten können wir ein anderes Mal pflegen. Da draußen läuft ein Verrückter herum. Einer, der Bombenfallen vor Kindergärten baut und Landminen vergräbt. Aber vor allem einer, der ankündigt, weitermachen zu wollen.»
Wettwick sah ihn kalt an.
«Gestern war es ein Kindergarten …», Steenhoff machte eine dramatische Pause, «… morgen ist es vielleicht eine Schule und übermorgen eine Sitzbank oder ein Mülleimer im Einkaufszentrum an der Waterfront.»
Das linke Auge von Wettwick zuckte.
Sie starrten sich an. Keiner der beiden Männer sagte ein Wort. Steenhoff stand noch immer direkt vor ihm, bis sich Wettwick schließlich zu seinem Schreibtisch umdrehte und eine Datei in seinem Computer anklickte.
«Der Brief wurde am 20. Oktober im Briefzentrum Bremen abgestempelt», begann er mit belegter Stimme. «Es gibt keine Möglichkeit, herauszufinden, wo er eingeworfen wurde.»
«Und weiter?»
«An der Briefmarke befinden sich keine Speichelreste, also keine DNA vom Täter. Das Kuvert ist selbstklebend. Somit sind wir da auch nicht fündig geworden. Ich habe das Papier elektrostatisch untersucht. Es gibt keine Eindruckrillen von einem
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