Schattenschmerz
liegt, träumt er von der anderen. Er betrügt seine Frau. Hält sie gefangen mit Geld und Geschenken. Lebt aus dem Vollen. Während anderswo Männer, Frauen und Kinder seinetwegen verrecken. Ahnt seine Frau denn nicht, was für ein Mensch er ist?
Er soll zahlen. Ich verspreche es dir. So oder so.
Jetzt wird abgerechnet.
Ich hatte alle Erinnerungen weggepackt. Wie Kleidung, die einem nicht mehr passt. Dich hatte ich auch weggepackt. Ich wollte alles vergessen. Ich wollte einen Schnitt machen und weiterleben.
Ich habe funktioniert. Einfach weitergemacht. Wie ein Roboter. Den anderen habe ich etwas vorgespielt. Monatelang trug ich eine Maske, die ich nicht abnehmen konnte. Dahinter war nichts. Kein Gefühl. Alles taub.
Bis zu dem Abend, als ich das Zeichen erhielt.
Der Mann, der an der dunklen Autobahn stand. Er hat jemand anderen als Vollstrecker gewählt. Mich hat er vorbeifahren lassen. Ich habe noch gestoppt, aber es war zu spät. Er war sofort tot.
Auch er ist einen Schritt zu weit gegangen. Aber er wollte es so.
Als ich sein Blut auf der Fahrbahn sah und mir der süßliche Geruch in die Nase stieg, da war wieder alles da. Seitdem weiß ich, was ich tun muss. Die Taubheit ist weg. Ich brauche keine Maske mehr. Ich bin am Leben und werde es nutzen.
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19
Steenhoff ließ verärgert die Tür hinter sich zufallen. Er schäumte vor Wut.
Petersen pustete in ihren Tee und tat, als beobachte sie den Dampf, der über der Tasse aufstieg. Sie wartete. Doch ihr Kollege schien sie nicht zu bemerken.
Er riss sich einen Aktenordner aus dem Regal, setzte sich an seinen Schreibtisch, überflog ein paar Zeilen und stand mit einem Ruck wieder auf, um den nächsten zu holen. Aber auch in diesem Ordner schien er nicht das zu finden, was er suchte.
«Brauchst du die Gartenschere, Frank?»
Steenhoff sah Navideh Petersen verwundert an.
«Unser Benjamini hat sich vom letzten Fall ja wunderbar erholt.» Anerkennend sah sie auf die große, wuchernde Pflanze, die zwischen ihren beiden Schreibtischen als eine Art Raumteiler fungierte und das kleine Büro unterm Dach dominierte.
Petersen kramte in der untersten Schublade nach der Schere. «Bei unserem letzten schwierigen Fall hast du den Baum ja beinahe auf Bonsai-Größe gestutzt, als sich unser Täter endlich erbarmte, einen Fehler zu machen.»
Mit diesen Worten legte sie die Schere auf den Tisch und sah ihn direkt an.
Steenhoff warf den Kuli, an dem er nervös gekaut hatte, auf den Tisch und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Schließlich gab er sich einen Ruck: «Wir haben keine Genehmigung für eine Telefonüberwachung bei von Germershausen bekommen. Der Staatsanwalt meint, es reiche nicht aus, um einen Antrag bei Gericht zu stellen.»
Petersen schüttelte den Kopf.
«Außerdem habe ich ein ungutes Gefühl mit diesem Farid.» Steenhoff schaute auf seine Uhr. «Ich gebe Andrea noch eine Stunde, dann muss sie mit der Telefonnummer und der E-Mail-Adresse rausrücken.»
Petersen schluckte die Bemerkung hinunter, dass Steenhoff die Journalistin dazu nicht zwingen konnte. Aber vermutlich würde sich Andrea Voss von sich aus jeden Moment melden.
Sie ging zur Tür und sah ihren Kollegen aufmunternd an. «Es ist Zeit. Unsere Besprechung beginnt gleich.»
In Gedanken versunken folgte Steenhoff ihr.
Keiner der Beamten bezweifelte, dass sich der oder die Attentäter in dem Schreiben an die Presseagentur auf den Vorfall in Farids Heimat bezogen. Doch was war Farids Rolle bei dem Drama? War er wirklich nur der ahnungslose Hinweisgeber, als der er sich ausgab? Mehrere Teilnehmer der Besprechung bezweifelten das.
«Der Mann ist nahe dran gewesen. Er könnte ein persönliches Motiv haben und sich rächen wollen», gab Frederike Balzer zu bedenken. «Er behauptet, es war sein Onkel, der damals den Kindern half. Aber vielleicht war sein Vater dieser Arzt, der sich später das Leben genommen hat.»
«Oder es saß ein Cousin oder eine Schwester mit in diesem Bus», warf Fabian Block ein.
Dann meldete Frederike Balzer sich erneut zu Wort: «Angeblich stammt Farid
zufällig
aus der Region, auf die sich unsere Attentäter in ihrem Bekennerschreiben beziehen. Er hat
zufällig
mit einer Journalistin, die aktuell darüber berichtet, vor Jahren zusammen in einer WG in Hamburg gelebt und wohnt jetzt
zufällig
in derselben Stadt wie sie, gibt ihr abends ein paar wichtige Hinweise und ist seitdem
zufällig
nicht mehr zu erreichen.» Sie verdrehte die Augen. «Das
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