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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Internet?»
    «Mindestens 20 000 Männer, Frauen und Kinder werden jedes Jahr durch Landminen zerfetzt», sagte die Journalistin scharf. «Ich wette mit dir, dass du nur einen Bruchteil dieser Horrorgeschichten im Internet findest. All diese einfachen Bauern und ihre Kinder sind viel zu unwichtig, als dass sich irgendwer wirklich für sie interessiert und ihre Leiden dokumentiert.»
    Steenhoff wollte etwas erwidern. Doch Andrea Voss war noch nicht fertig.
    «Im Übrigen wundert mich nicht, dass eure Leute vergeblich gesucht haben. Die Region, in der der Bus 1993 verunglückte, heißt offiziell ganz anders. Paghman wird die Region erst seit einigen Jahren auf Betreiben eines lokalen Warlords genannt. Der wollte sich mit dieser Bezeichnung schmücken. Sie geht auf einen König zurück, Amanullah oder so ähnlich, der in der Nähe von Kabul einen öden Landstrich in blühende Gärten verwandeln ließ, die Gärten von Paghman. Der Warlord hat Straßen und mehrere Brücken bauen lassen und Geld in Krankenstationen gesteckt. Wenn er von den Dörflern verlangt hätte, dass sie ihre Heimat künftig Lummerland nennen sollen, hätten sie’s auch gemacht.»
    Steenhoff und Petersen wechselten einen Blick.
    «Warum guckt ihr euch so an?», fragte Andrea Voss alarmiert.
    «Weil es von erheblicher Bedeutung sein könnte, dass die Täter die Bezeichnung dieses Warlords und nicht den korrekten geographischen Namen des Landstrichs benutzen.»
    «Aber noch wissen wir doch gar nicht, ob es tatsächlich das Paghman ist, von dem die Attentäter schreiben», warf Andrea Voss ein.
    Navideh Petersen ergriff sofort die Chance. «Genau», nahm sie den Faden der Journalistin auf, «und deswegen ist es extrem wichtig, dass wir so schnell wie möglich mit diesem Farid reden. Ruf ihn an und sag ihm, dass wir uns nicht für fehlende Stempel in seinem Pass interessieren, sondern nur mit ihm über Paghman reden wollen. Ort und Zeit bestimmt er. Sag ihm, wir sind von der Mordkommission und nicht von der Ausländerbehörde.»
    Steenhoff nickte zustimmend. «Mach ihm klar, dass wir verhindern wollen, dass noch mehr Kinder sterben.»
    Andrea Voss schaute von einem zum anderen: «Euer Wort darauf, dass ihr ihn anschließend wieder gehen lasst.»
    «Unser Wort darauf», sagte Petersen und sah Steenhoff an. Der nickte.
    Andrea Voss nahm ihr Handy und ging zum Telefonieren ins Nebenzimmer. Nach wenigen Minuten kehrte sie in die Küche zurück und zuckte bedauernd mit der Schulter. «Er ist leider nicht rangegangen. Ich werde es weiter versuchen.»
    Steenhoff trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Mit einem Ruck stand er auf. «Was hast du eigentlich damals studiert, als du mit Farid in der WG gelebt hast?», fragte er scheinbar beiläufig.
    «Publizistik und Politik.»
    «Und Farid?»
    «Irgendetwas Naturwissenschaftliches.» Andrea Voss dachte angestrengt nach. «Ich glaube Chemie und Physik …»
    Der Satz hing unheilvoll im Raum.
    «Scheiße!», entfuhr es Andrea Voss laut. Sie sah die beiden Ermittler panisch an. «Ihr irrt euch. Ganz bestimmt. Farid ist in Ordnung. Ich mache bis heute Abend einen Termin mit ihm klar, dann könnt ihr euch selbst davon überzeugen.»
    «Nicht bis heute Abend. Bis heute Mittag», sagte Steenhoff und griff nach seinen Autoschlüsseln.

[zur Inhaltsübersicht]
    18
    Ich habe ihm geschrieben. Mehrere Male. Aber er hat nicht reagiert.
    Die beiden Männer vom Montag, die gehen auf sein Konto. Zwei Tote mehr zu all den anderen, die er auf dem Gewissen hat.
    Aber manchmal denke ich, dass er vielleicht gar kein Gewissen hat. So einer kann nachts wahrscheinlich sogar gut schlafen. Der zuckt nicht zusammen, weil neben ihm auf dem Parkplatz die Tür eines Lastwagens zugeknallt wird. Der erstarrt nicht im Supermarkt in Todesangst, weil die Dose, nach der er gerade greifen wollte, eine Sprengfalle sein könnte. Einen wie ihn verfolgen keine Gerüche, keine Stimmen, keine Bilder, die sich im Kopf eingenistet haben. Er kann ohne Schweißausbrüche über den Marktplatz spazieren. Er kennt diese Enge in der Brust nicht, weil hinter einem der vielen Fenster ein Scharfschütze lauern könnte. Weil man einfach immer und jeden Moment auf der Hut sein muss. Weil jeder Moment, jeder Schritt der letzte sein kann. Nein, diese Enge kennt er nicht.
    Dieser Mörder, dieser Lügner.
    Noch nicht einmal in seinem kleinen, widerlichen Leben mit der bürgerlichen Fassade kann er sich an die Regeln halten. Wenn er zu Hause neben seiner Frau

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