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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Ärztin. Er hatte die Frau auf einem Markt in Kabul getroffen, als er geröstete, süße Mandeln kaufen wollte. Er hatte den geforderten Preis des Händlers sofort akzeptiert, da sprach sie ihn an.
    «Sie müssen mit ihm handeln, sonst verletzen Sie seinen Stolz.»
    Als er sich umdrehte, stand eine hochgewachsene Frau vor ihm. Sie hatte sich ein Schaltuch um den Kopf geschlungen, das ihre Haare fast vollständig verbarg. Verschmitzt blinzelte sie ihn an.
    Fischer hatte daraufhin mühsam einen Preis auf Dari vorgeschlagen. Der Afghane reagierte empört und zeigte wild gestikulierend auf seine Mandeln, Gewürze und Auberginen.
    «Er blufft, handeln Sie weiter», ermunterte ihn die Frau leise.
    Erst nach viel Gezeter und Augenrollen erhielt Ben Fischer seine gewünschte Tüte Mandeln. Zufrieden zählte der Händler die Scheine nach, die ihm Fischer in die Hand drückte.
    «Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie lange ich bräuchte, um hier die Zutaten für ein komplettes Abendessen einzukaufen», sagte er schmunzelnd.
    «Das ist nur am Anfang so», beruhigte ihn die Frau. «Aber vielleicht darf ich Sie nächste Woche zu einem Essen in unser Hospital einladen?»
    Fischer erfuhr noch, dass die Medizinerin schon seit anderthalb Jahren in Kabul lebte, wo sie im Westen der Stadt für eine Berliner Hilfsorganisation arbeitete. Sie sprach ein paar Brocken Dari und Paschtu und schien vertraut mit den unausgesprochenen Gesetzen des Landes. Fischer bemerkte, dass die Händler auf dem kleinen Markt ihr mit Respekt begegneten.
    Einige Tage später stand er vor dem abgeriegelten, gutbewachten Hospital. Zwei bewaffnete Männer ließen sich seinen Ausweis zeigen. Aber erst nachdem sie überprüft hatten, dass er tatsächlich bei der Ärztin angemeldet war, durfte Ben Fischer auf das Gelände.
    Seine Gastgeberin stand auf einem schmalen Balkon vor ihrem Apartment und winkte ihm zu. Sie hatten nur wenige Sätze auf der Straße miteinander gesprochen, dennoch fühlte er sich seltsam mit ihr vertraut.
    Die Medizinerin hatte neben Ben Fischer ein paar ihrer deutschen Kollegen und einige Afghanen zum Essen eingeladen. Wie es Landessitte war, saßen sie alle auf dem Boden und aßen von großen Schüsseln und Tellern, die auf dem Teppich vor ihnen standen. Es gab Boranie Badenjan, Auberginen mit Quark.
    Als er während des Essens von seiner Idee berichtete, eine kleine Ambulanz in Istalif aufzubauen, horchte seine Gastgeberin auf. Fischer konnte seinen Vorschlag an jenem Abend zwar nicht weiter vertiefen. Beim Abschied lud er die Ärztin jedoch zu einem kleinen Ausflug nach Istalif ein. Ihre spontane Zusage überraschte ihn.
     
    Zwei Wochen später holte er sie vom Hospital ab.
    Kabul lag wie unter einer Hitzeglocke. Fischer hatte sich angewöhnt, nur noch flach zu atmen. Er bildete sich ein, dadurch weniger zu schwitzen. Obwohl es eine eher trockene Hitze war, klebte sein Hemd am Rücken, als sein Fahrer hielt und er an der Tür der Ärztin klopfte. Die Frau hatte sich einen langen, türkisfarbenen Schal über die Haare gelegt. Dazu trug sie ein helles, langärmliges Hemd und eine weite Hose, die ihre Figur verbergen sollte. Doch als sie sich bückte, um ihre Tasche vom Boden aufzuheben, zeichnete sich ihre schlanke Silhouette unter der Kleidung ab. Ihr schien das Klima nichts auszumachen. Sie wirkte frisch und gut gelaunt.
    Einen Moment lang fühlte Ben Fischer sich, als würde er mit seiner Geliebten zum Picknick ins Grüne fahren. Er tat den Gedanken sofort wieder ab. Sie befanden sich in Afghanistan und nicht in einer Kino-Romanze!
    Inzwischen war Wind aufgekommen, der den trockenen Staub von den Straßen in die Häuser trug. Ein beißender Geruch lag in der Luft. Irritiert suchte Fischer nach der Ursache des Gestanks. Die Frau deutete seinen Blick richtig.
    «Was Sie riechen, sind getrocknete Fäkalien. Kabul besitzt keine Kanalisation.» Sie zeigte aufs Auto. «Kommen Sie. Auf dem Land werden wir wieder frei durchatmen können.»
    Ben Fischer hielt ihr die Autotür auf. Sie warf sich ihren Schal über die Schulter und stieg in den Fond des Autos. Hupend bahnte sich der Fahrer einen Weg Richtung Hauptstraße.
     
    Wie lang das her ist! Keiner von uns ahnte an jenem Tag, was wenige Wochen später passieren würde. Afghanistan war eine andere Zeitrechnung. Eine, die für uns abrupt am Rande der Shamalie-Ebene zu Ende ging.

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    28
    Navideh Petersen nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe zum dritten Stock

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