Schattenschmerz
tot, und ich lebe. Oder andersherum: Du lebst in mir, und ich fühle mich tot. Nur unsere Aufgabe lässt mich weitermachen. Keine Stunde, in der ich nicht an Afghanistan denke. An die Hitze, die an manchen Tagen über Kabul liegt. Den stechenden Geruch in den Gassen der Händler.
Ich brauche nur die Augen zu schließen, dann bin ich wieder in unserem Sommer in Kabul.
Angestrengt beobachtete Ben Fischer die staubige Piste. Dichter Autoverkehr, Eselkarren und schwerbeladene Lastwagen drängten sich auf drei Spuren in Richtung Istalif. Hundert Meter vor ihnen war der Verkehr auf der Shomali Road ins Stocken gekommen.
«Niemals anhalten!», hatte ihm der afghanische Polizeioffizier vor der Fahrt in die Kleinstadt eingeschärft. Und ein Polizeibeamter aus München, der sich schon ein paar Monate im Land aufhielt, hatte ihm einen laminierten Zettel in den Sprachen Dari und Paschtu in die Hand gedrückt.
«Falls dein Fahrer einen Unfall baut, wirfst du den Zettel raus, und dann nix wie weg. Selbst, wenn ihr jemanden angefahren habt. Klar?» Auf dem Zettel war vermerkt, an wen sich die Betroffenen bei Regressforderungen in der Internationalen Polizeiakademie in Kabul wenden könnten.
«Aber mein Fahrer ist Afghane», hatte Fischer angemerkt. «Er wird doch mit den Leuten verhandeln können.»
Sein Kollege hatte das Gesicht verzogen. «Es geht nicht um Reden und Verhandeln. Manchmal werden Unfälle mit Ausländern von den Taliban provoziert, nur um sie aus den Autos zu locken und sofort in die Luft zu jagen.»
Ben Fischer hatte die Warnung für stark übertrieben gehalten. Außerdem war er nicht das erste Mal im Ausland. Er hatte direkt nach dem Abitur mehrere Monate lang die Türkei und den Iran bereist und war schon als Ausbilder im Kosovo gewesen.
Zwei Wochen wohnte er nun schon in der Polizeiakademie in Kabul. Langsam drohte ihm die Decke auf den Kopf zu fallen. Ben Fischer war nicht so weit gereist, nur um sich hinter hohen Mauern mit Natodraht zu bewegen. Wenn er Afghanen ausbilden und trainieren sollte, musste er auch privat welche kennenlernen. Die afghanischen Rekruten in der Kaserne trauten sich kaum, den Mund aufzumachen. Unterwürfig schauten sie zu Boden, sobald er sie mit Hilfe eines Dolmetschers ansprach. Kam einer ihrer Vorgesetzten hinzu, verstummten sie endgültig.
In Hamburg hatte sich Ben Fischer häufig über das ausgeprägte Hierarchie-Denken innerhalb der Polizei beklagt. Aber was er in Afghanistan erlebte, spottete jeder Beschreibung.
Plötzlich bremste sein Fahrer scharf ab.
«Was ist los?»
«Irgendetwas auf der Straße», antwortete der Mann vage und bemühte sich vergeblich, möglichst gleichmütig dreinzuschauen. «Wahrscheinlich ein Unfall.»
Gebannt starrten beide Männer auf die Shomali Road vor ihnen. Inzwischen ging es nur noch im Schritttempo voran. Unwillkürlich blickte sich Ben Fischer um. Im Auto hinter ihnen saß eine afghanische Familie mit drei Kindern. Beruhigt ließ er sich in den Sitz zurückfallen. Er weigerte sich, in jedem Menschen mit Tadschiken-Kappe oder Burka einen potenziellen Attentäter zu sehen. Wer würde schon seine eigenen Kinder opfern?
Endlich erkannten sie, was zu dem Stau auf der Straße geführt hatte. Mitten auf der Fahrbahn hatten zwei Männer ihr liegengebliebenes Auto aufgebockt. Sie wechselten einen Reifen. Kein Warnschild wies auf das Hindernis hin.
«Warum fahren sie für die Reparatur nicht rechts ran?» Ben Fischer war verblüfft.
«Wir sind in Afghanistan», entgegnete sein Fahrer schlicht.
Da Ben Fischer wusste, dass der Mann längere Zeit in Göttingen gelebt und studiert hatte, hakte er noch einmal nach. «Aber sie behindern den ganzen Verkehr.»
Der Fahrer grinste schwach. «Ja, aber so ersparen sie sich wenigstens, den Wagen ein Stück zu schieben.»
Ben Fischer fragte nicht weiter.
Sie passierten alte Panzerwracks am Straßenrand und immer wieder kleine Buden, die Benzin in Flaschen verkauften. Riesige Poster warben für die neuesten Mobiltelefone.
40
Minuten später erreichten sie ohne weitere Zwischenfälle die Kleinstadt Istalif.
Vor dem Bürgerkrieg war der Ort, der auf mehreren Hügeln lag, berühmt für seinen Weintraubenanbau. Die Kämpfe zwischen der Nordallianz und den Taliban hatten Istalif und seine Umgebung stark zerstört.
Ben Fischer hatte von dem Beamten aus München gehört, dass sich eine kleine Künstlerkolonie in dem malerisch gelegenen Ort gebildet hatte. Als der Fahrer ihren Wagen vor dem Teehaus
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