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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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blieb wie angewurzelt stehen. Er schwieg nachdenklich.
    «Michael hatte erst kurz zuvor seine erste Schwimmprüfung abgelegt», fuhr Navideh Petersen fort. «Du weißt selbst, dass sich die meisten Kinder damit nur ein paar Minuten über Wasser halten können. Auf jeden Fall können sie niemanden aus dem Wasser retten.» Sie stellte die Tasse ab. «Er hat es trotzdem versucht. Sein Freund hat gestrampelt, geschrien und um sich geschlagen, als Michael zu ihm ins Wasser lief. Beide waren in Panik. Schließlich hat der Junge Michael mit unter Wasser gezogen. Um Haaresbreite wären sie beide ertrunken. Erst in letzter Sekunde konnte Michael sich von ihm lösen. Er hat sein eigenes Leben gerettet.» Sie machte eine Pause. «Das hat er sich nie verziehen.»
    Steenhoff lehnte sich an den Aktenschrank.
    «Ich sollte dir das wahrscheinlich alles gar nicht erzählen», sagte Navideh. «Die Taucher, die seinen Freund eine halbe Stunde später rausholten, nannten Michael einen Helden. Er hatte das Unmögliche versucht. Aber Michael wollte davon nichts wissen. In seinen Augen hatte er das Leben seines Freundes geopfert, um sich selbst zu retten. Seitdem ist er nie wieder ins Wasser gegangen. Als der Junge heute in den Fluss sprang und schrie, kam bei ihm alles wieder hoch.» Sie sah Steenhoff direkt an. «Michael ist fix und fertig, Frank. Er mochte mir kaum in die Augen schauen, als er mir das eben erzählt hat. Dabei gibt es überhaupt nichts zu entschuldigen.»
    Regungslos stand Steenhoff am Schrank. Schweigen legte sich über das kleine Büro.
    «Das wusste ich nicht», sagte Steenhoff schließlich mit belegter Stimme. Müde rieb er sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann drehte er sich um und ging zur Tür. «Ich werde mit Michael reden. Farids Vernehmung muss warten.»
     
    Es war kurz vor Mitternacht, als Petersen erfuhr, was Andrea Voss am Abend ausgesagt hatte.
    Der Afghane hatte den Ort um die einsam gelegene Kirche an der Weser gezielt ausgesucht, erzählte Steenhoff. «Allerdings aus einem völlig anderen Grund, als wir dachten.»
    Gespannt sah Navideh Petersen ihn an.
    «Farid ist vor dem Krieg und den religiösen Fanatikern in seiner Heimat geflohen. Offensichtlich war er von Anfang an fasziniert davon, dass in Deutschland viele verschiedene Religionsgemeinschaften friedlich nebeneinanderleben können. In Bremen betrat er dann zum ersten Mal in seinem Leben eine Kirche. Der Moment, als er wieder vor den Domtüren stand und niemand ihn bedrohte, weil er als Muslim einen christlichen Ort betreten hatte, veränderte angeblich sein Leben. In Afghanistan wäre er ein toter Mann gewesen, hat er Andrea Voss erzählt.» Steenhoff drehte nachdenklich einen Kugelschreiber zwischen den Fingern. «Die wenigen Christen in Afghanistan müssten ihren Glauben verstecken und könnten sich nur heimlich treffen, sagt er. Wer vom Islam zum Christentum konvertiere, begebe sich in Todesgefahr.»
    Er machte erneut eine kurze Pause und fuhr dann fort: «Die einsam und damit in seinen Augen völlig schutzlos gelegene Moorlose Kirche, die er bei einem Ausflug mit Bremer Freunden kennenlernte, wurde für Farid zum Symbol der Freiheit in seiner neuen Heimat. Und die wollte er angeblich seinem Bruder vor der Abreise aus Bremen noch unbedingt zeigen.»
    «Ist Farid zum Christentum konvertiert?», erkundigte sich Petersen.
    «Nein. Aber nach Aussage von Andrea Voss trägt er sich wohl mit dem Gedanken.»
    Petersen dachte über seine Worte nach. «Und der Streit? Warum hatte Andrea Voss ihn so angeschrien?», fragte sie schließlich.
    Steenhoff seufzte und atmete schwer aus. «Angeblich hat er ihr von Khaleda, seiner 14-jährigen Schwester, erzählt. Ein Warlord will sie zu seiner Zweitfrau machen. Farids Eltern sind verzweifelt, aber trauen sich nicht, sie allein ins Ausland zu schicken. Andrea Voss hat von Farid verlangt, sie mit Schleppern hierherzuholen. Aber anders als für seinen minderjährigen Bruder zögert er wohl, die Verantwortung für das Mädchen zu übernehmen. Darüber wollen sie sich gestritten haben.»
    «Du glaubst Andrea nicht?», fragte Navideh Petersen verblüfft.
    Steenhoff verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute aus dem Fenster. «Sie ist felsenfest von seiner Unschuld überzeugt.»
    «Du meinst, sie könnte uns deswegen anlügen?»
    «Nein. Aber vielleicht die Geschichte etwas zurechtbiegen, damit wir ihren früheren Mitbewohner laufenlassen.»
    Petersen schüttelte zweifelnd den Kopf. «Es klingt

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