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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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am Ortseingang parkte, musste er sich jedoch eingestehen, dass der Begriff «Künstlerkolonie» bei ihm völlig falsche Assoziationen geweckt hatte.
    Von vielen der mit Lehm verputzten Häuser war nach den Kämpfen nicht mehr als ein mannshoher Schutthaufen übrig. Entsetzt stellte Ben Fischer fest, dass vor manchen der zerschossenen Behausungen Wäsche im Wind trocknete. Hausten hier etwa noch Menschen? Und tatsächlich krochen aus Erdlöchern, die er bei näherem Hinschauen als eingestürzte Hauseingänge identifizierte, jetzt neugierige Kinder.
    Ein etwa
60
-jähriger Mann mit lederner Gesichtshaut kam lächelnd aus einem Teehaus auf sie zu. Während der Mann auf den Fahrer einsprach, ergriff er die Hand des Jüngeren. Ben Fischers Begleiter ließ es ohne Protest geschehen.
    «Ein Verwandter von Ihnen?», mischte sich Ben Fischer irgendwann ins Gespräch ein.
    «Nein. Wie kommen Sie darauf?», erwiderte der Fahrer erstaunt. Dann lachte er auf. «Ach, die afghanischen Männer suchen einfach immer den Körperkontakt, wenn sie miteinander reden. Sie fassen sich an Händen und Schultern. Anders als bei Ihnen in Deutschland. Die Deutschen brauchen Distanz, um sich miteinander wohl zu fühlen. Stimmt’s?»
    Ben Fischer musste zugeben, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte.
    Der alte Mann hatte aufgehört zu reden und schaute ihn auffordernd an.
    «Was will er?», fragte Fischer.
    «Uns rumführen und die touristischen Höhepunkte zeigen.» Als der Fahrer sah, dass Ben Fischer zögerte, fügte er schlicht hinzu: «Der Lohn, den er dafür fordert, sind nur wenige Dollar oder Afghanis. Für seine Familie bedeutet das, drei Tage satt zu werden. Er will nicht betteln, dafür ist er zu stolz.»
    Ben Fischer überlegte nicht lange. «Okay. Sagen Sie ihm, ich freue mich, dass er uns durch Istalif führen wird.»
    Als der Fahrer die Worte des Deutschen übersetzte, hellte sich das Gesicht des Mannes auf. Er machte ihnen ein Zeichen und humpelte los. Er schien Schmerzen im linken Fuß zu haben, denen er jedoch keine Beachtung schenkte.
    Während sie einer von tiefen Löchern durchsetzten Straße zum früheren Zentrum des Städtchens folgten, redete der Alte permanent auf Ben Fischer und seinen Fahrer ein.
    «Was für eine Sprache spricht er?»
    «Dari», antwortete der Fahrer knapp.
    Schließlich blieb der Alte vor einem gigantischen Schuttberg stehen, der etwas abseits der Straße lag. Nur eine Mauer des Gebäudes war noch erhalten. Wieder ergoss sich ein Wortschwall über die beiden Männer. Dabei zeigte ihr Führer immer wieder auf die Ruine.
    «Was war das mal?»
    «Das Hotel von Istalif», sagte der Fahrer.
    Ben Fischer pfiff durch die Zähne.
    Ihr Führer humpelte weiter. Aber Ben Fischer blieb vor dem halbgeöffneten, staubgrauen Tor eines Innenhofes stehen. Im Schatten einer alten Zeder hockten zwei Männer auf dem Boden und füllten Lehm in kistenartige Fächer. Sie bemerkten nicht, dass Fischer sie fasziniert beobachtete. Schon häufig hatte er sich in Afghanistan wie auf einer Zeitreise gefühlt.
    ‹So haben hier die Menschen schon vor
1000
 Jahren Lehmziegel hergestellt›, durchfuhr es ihn. Er überlegte, ob er ein Foto schießen sollte, fürchtete aber, die Männer damit zu beleidigen
.
    Plötzlich bemerkte er, dass er selber beobachtet wurde. Als er sich umschaute, sah er die dunklen Augen des Alten, der ihn ohne Scheu musterte.
    Inzwischen hatte sich eine Traube von Kindern um sie geschart. Auch sie betrachteten den Fremden neugierig. Da keiner von ihnen bettelte, vermutete Ben Fischer, dass der Führer mit ein paar scharfen Worten dafür gesorgt hatte. Ungeniert starrten ihn die Jungen an. Die meisten von ihnen gingen barfuß. Manche trugen lange Hemden über ihren weitgeschnittenen, knöchellangen Hosen und dunkle, schmutzige Westen. Zwei Mädchen steckten in gemusterten langen Kleidern, die Ben Fischer an zu große Nachthemden erinnerten. An ihren Füßen klebte Lehm. Er nahm an, dass sich die Kinder seit Wochen nicht mehr richtig gewaschen hatten. Ein etwa achtjähriger, magerer Junge, der neben ihm stand, machte bei jedem Atemzug ein pfeifendes Geräusch. Plötzlich wurde sein Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Er krümmte sich und rang mit angstgeweiteten Augen nach Luft.
    Ben Fischer kannte die Symptome. Einer seiner Neffen kämpfte ebenso wie dieser Junge gegen schweres Asthma an. Irgendwo hatte er gelesen, dass in Afghanistan fast jedes fünfte Kind an unbehandelten

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