Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Umgekehrt hatten einzelne von ihnen gezielt unsere mentale Verwobenheit genutzt, um mir etwas Bestimmtes zu vermitteln. Aber was würde passieren, wenn es mir gelang, diese Fähigkeiten auch bei Menschen anzuwenden? Schließlich offenbarten sie mir ihre Gefühle und Gedanken ohnehin schon eindeutiger, als ihnen lieb sein konnte.
Je länger ich darüber nachdachte, desto unheimlicher wurde mir zumute. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, dass wir Schattenschwingen über Macht verfügten. Macht, um zu begreifen und zu beeinflussen. Vermutlich war das der Grund gewesen, weshalb die alten Schattenschwingen sich nach dem Krieg dazu entschlossen hatten, ihre außerordentlichen Fähigkeiten künftig einzudämmen. Niemandem sollte mehr vor Augen geführt werden, welche verführerischen Fähigkeiten in ihm schlummerten. Keinesfalls wollten sie irgendeine Art von Größenwahn fördern – schließlich war all das bereits einmal missbraucht worden.
»Ob Asami wohl bereit wäre, mir mehr über die Entscheidungen, die nach dem Krieg getroffen wurden, zu erzählen?«, fragte ich mich halblaut, um mich am Einschlafen zu hindern. Während mein Geist auf Hochtouren arbeitete, drohte mein Körper nämlich wegzudämmern. Der Sand fühlte sich gemütlich an, und der kräftige Wind, der übers Meer kam, ähnelte zunehmend der Melodie eines Gutenachtlieds. Es brauchte nicht mehr viel, und ich würde in dieser zusammengekauerten Haltung wegdösen. Das Fest würde ich Asami, der jeden Moment eintreffen musste, auf keinen Fall gönnen.
Gerade als ich mich dazu aufraffte, wenigstens meinen bleiernen Kopf anzuheben, ließ sich jemand neben mich in
den Sand plumpsen, der mit Sicherheit nichts von eleganten Enthauptungsmethoden verstand: Ranuken.
»Morgen!«, grüßte er mich fröhlich, ganz Ausbund an guter Laune. »Wer hat denn dir die Luft abgelassen?«
»Das Leben im Speziellen und Allgemeinen.« Ich streckte mich ausgiebig, was besser ging als erwartet. »Ich will dich ja nicht vergraulen, aber ich bin mit Asami verabredet. Der dürfte hier gleich ankommen.«
Ungerührt schenkte Ranuken mir ein Lächeln, bei dem ich jeden einzelnen seiner ungewöhnlich großen Zähne sehen konnte. »Ach, Asami. Jetzt, wo der dein untergebener Diener ist, sehe ich das locker. Der kann mir nix. Ich meine, du würdest es doch nicht zulassen, dass der mir krummkommt, oder?«
»Kommt drauf an«, erwiderte ich, verblüfft über die Rolle, die Ranuken mir zuschieben wollte. »Wenn du ihn nicht allzu sehr pestest, wird er dich schon in Ruhe lassen. Aber wenn du es darauf anlegst, ihn gegen dich aufzubringen …«
»Hey, ich bin nicht bescheuert, okay! Mir gefällt eben nur die Vorstellung, nicht jedes Mal einen halben Herzinfarkt zu erleiden, wenn der Erste Wächter mit Grabesmiene auftaucht. Es ist einfach schön, mit dir eine Versicherung gegen seine strengen Strafen zu haben.«
»Ranuken, falls irgendwo in deinem Kopf die Idee herumschwirrt, du hättest jetzt dank meiner Freundschaft den Freifahrtschein, die Grenzen bei Asami auszutesten, dann schmink dir das gleich wieder ab. Ich habe ihm nicht die Schwingen gebrochen, damit du dich jetzt an ihm austobst, weil nicht mit Gegenwehr zu rechnen ist.«
»Ich darf ihn also nicht ärgern? Nicht einmal ein bisschen? «
Ranuken guckte so flehend, dass ich seine Bitte nicht abweisen wollte. Immerhin war Asami ja auch nicht gerade
ein Unschuldslamm. Also suchte ich nach der richtigen Formulierung, damit Ranuken seine neue Freiheit genießen konnte, ohne gleich über die Stränge zu schlagen. »Ein bisschen ärgern ist okay. Aber nur ein bisschen. Wenn es anfängt, sich ordentlich gut anzufühlen mit der Asami-Prickerei, dann hörst du auf. Sofort.«
Ranuken nickte mit ernster Miene. »Habe verstanden, Sir.«
»Da fällt mir übrigens etwas ein: Mila hat sturmfreie Bude, ihre Eltern sind für einige Tage verreist. Sobald Asami mich vom Wickel lässt, will ich rüber und sie besuchen. Ich werde heute Abend also nicht bei der Versammlung sein. Sag Kastor Bescheid und unterstütz ihn bitte, was Shirin anbelangt. Vermutlich verpasse ich ohnehin nichts. Über unseren Vorschlag, im Weißen Licht nach dem Schatten zu suchen, hat die Mehrheit ja nichts hören wollen. Da tauschen sie lieber noch ein paar Gemeinheiten aus. Das brauche ich heute echt nicht.« Die letzte Versammlung war die frustrierendste überhaupt gewesen, sodass mir die Entscheidung leichtfiel, einmal zu schwänzen. »Unsere Treffen werden
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