Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Vorhaben mir mehr zusetzte, als ich mir eingestand. Im Gegensatz zu Kastor, der eine halbe Ewigkeit als Wächter im Weißen Licht gefristet hatte, war ich erst einmal damit konfrontiert worden – dafür waren mir seine Auswirkungen jedoch äußerst lebendig in Erinnerung geblieben. Fast hätte ich mich damals selbst verloren gegeben. Genau das, worauf die dortige Form der Magie abzielte: Sie löschte alles aus, was einen als Person ausmachte, bis man nur noch als leere Hülle schwerelos durchs Licht schwebte. Ein Schutzwall oder gar »das perfekte Gefängnis«, wie Kastor das Weiße Licht bei unserem ersten Treffen genannt hatte. Heute sollten wir also herausfinden, ob seine Annahme stimmte und das Gefängnis den Schatten hatte gefangen halten können.
»Samuel, bevor wir das Weiße Licht erreichen, führ dir noch einmal vor Augen, wie man sich seiner Wirkung entzieht: Du bietest dich ihm an, lässt dich von ihm umfluten, und kurz bevor es mit deiner Auslöschung beginnt, offenbarst du ihm deinen Kern: deine Aura. Sie ist es, die dir in dieser magischen Bannmeile Halt gibt.«
»Ja, das habe ich verstanden. Es ist diese Feuer-mit-Feuer-Bekämpfen-Nummer«, erwiderte ich, nachdem ich den Druck in meiner Kehle runtergeschluckt hatte. »Ich habe nur meine Zweifel, ob ich das auch so locker umsetzen kann, wie es bei dir klingt.«
Obwohl Kastor Feigheit ansonsten strikt ablehnte, sah er mich verständnisvoll an. »Erstens ist es ganz und gar keine lockere Geschichte, sich dem Weißen Licht mit voller Absicht auszuliefern, zweitens bist du einer der wenigen, denen ich es zutraue, es zu bestehen. Deine Aura ist stark genug, du kannst dich dieser Magie widersetzen.«
»Super, als du das letzte Mal auf meine Fähigkeiten vertraut
hast, habe ich mich anschließend unter einem Mob tobsüchtiger Schattenschwingen wiedergefunden, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie mich aus Hass zerquetschen oder aus Zuneigung zu Tode drücken sollten.« Auch wenn meine Augen wegen der uns umgebenden Helligkeit brannten, starrte ich trotzig in das weiß strahlende Band, das den Horizont ersetzt hatte. »Selbst auf die Gefahr hin, feige zu wirken … Brauchst mich wirklich für diese Sache?«
Genau wie meine schlugen auch Kastors Schwingen gemächlich auf und ab. Geschickt nutzten wir den Aufwind aus, um uns in der Luft zu halten, ohne uns dabei groß vom Fleck zu bewegen. Kastor ähnelte einem aufgespießten Schmetterling – einem mit bronzefarbenem Körper und grau-schlierigen Flügeln. Bevor er sich zu einer Entgegnung herabließ, musterte er mich ausgiebig. Ich ließ es einfach geschehen. So war er eben. Kastor redete nie um eine Sache herum, nein, jedes Wort musste sitzen, als gälte es für überflüssiges Gerede einen hohen Preis zu zahlen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir Plappermäuler das wahrscheinlich auch.
»Kastor, wenn du mich noch lange so anstierst, fange ich bereits Feuer, bevor ich überhaupt mit dem Weißen Licht in Berührung gekommen bin.«
Zumindest entlockte ich ihm damit ein Seufzen.
»Ich werde es dir nicht nachtragen, solltest du jetzt einen Rückzieher machen«, ließ er mich mit seiner überaus ruhigen Stimme wissen. »Um die Hülle des Schattens zu finden, muss ich sehr weit in das Weiße Licht vordringen. Weiter, als ich je gewesen bin. Dabei komme ich dem Vernichteten Gebiet nah. Du sollst mein Leuchtturm sein, damit ich den Weg zurück finde. Von uns allen strahlst du am hellsten, Samuel. Aber wenn du dich mit dieser Aufgabe überfordert fühlst, verstehe ich das. Von dir als Neuling kann niemand
erwarten, dass du eine solche Last schulterst, obwohl du befürchtest, unter ihr zusammenzubrechen.«
Kastor meinte es ernst. Sollte ich mich dagegen entscheiden, ihm bei seiner Suche zur Seite zu stehen, würde er es mir nicht nachtragen. Die Wahl lag bei mir.
Ich spürte die wohlige Wärme des Weißen Lichts auf meiner Haut und erinnerte mich unwillkürlich daran, dass es sich auch dann noch wohlig anfühlte, wenn es einen bereits in ein Brathuhn verwandelt hatte.
Für einen Moment schloss ich die Augen und legte meinen Kopf in den Nacken, dann sagte ich: »Also gut, ich spiele für dich Leuchtturm, selbst auf die Gefahr hin abzufackeln. «
Ich sah, wie Kastors Lippen sich bewegten, aber ich wollte weder eine Ermunterung noch irgendeinen Spartanerspruch über Mut und die Liebe zur Tat hören. Mit einem kräftigen Schwingenschlag stob ich davon.
9
Ein Schatten im Licht
Es brannte.
Nein,
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