Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
abzusuchen, oder er war schlicht schon zu weit vorgedrungen, versuchte ich mir einzureden. Schließlich war ich gerade erst dabei, mich hier zurechtzufinden, oder vielleicht funktioniert das Netz in der Nähe zum Vernichteten Land nicht. Wie auch immer dieses Gebiet aussehen mochte … Ich schluckte schwer.
Unschlüssig, was ich tun sollte, betrachtete ich das Meer,
das sich jäh unter mir aufgetan hatte. Sonst schenkte mir sein Anblick immer Trost, aber in diesem Moment verstärkte es meine Unruhe nur. Denn ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt Wasser war, das in der Tiefe unter mir das Licht wie ein gleißender Spiegel zurückwarf. Obwohl ich meinen Flugkünsten noch nicht wirklich über den Weg traute, schwebte ich bis knapp über die Oberfläche.
Kein Wellenrauschen und auch kein typischer Meeresgeruch, der einem die Nebenhöhlen freimacht, wie ich irritiert bemerkte. Dafür stellte sich eine andere vertraute Reaktion ein: Die Narbensymbole auf meinem Unterarm machten sich unter der von Lorson reparierten Armschiene bemerkbar. Allerdings auf eine bislang unbekannte Weise, die mir überhaupt nicht gefiel. Es fühlte sich an, als würde jedes einzelne Zeichen mit einer scharfen Messerspitze fein säuberlich nachgeschnitten. Ein scharfer Schmerz, der einen Augenblick beim letzten Zeichen verweilte, als erwarte das Messer ein weiteres Symbol, auf das es überspringen konnte. Glücklicherweise war die Zeichnung jedoch niemals vervollständigt worden.
Dann war der Schmerz vorbei.
Verwundert blickte ich auf den Meeresspiegel, der mich nicht länger blendete. Stattdessen sah ich flaschengrünes Glas unter mir, dessen erstarrte, glänzende Oberfläche sich zu Wellen bog.
So fantastisch das Ganze auch sein mochte, auf meinen Oberarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Ein Meer, das nicht in Bewegung war, war kein Meer. Zumindest hatte dieses Reich nichts mit dem Element zu tun, dem ich mich von Geburt an verbunden gefühlt hatte und das zugleich meine Pforte zwischen den Welten war.
Mit pochendem Herzen sah ich, was sich in diesem reglosen Meer befand: ein Schwarm schillernder Heringe, mitten
in der Bewegung konserviert, und Treibholz, umgeben von einem Schleier aus Perlen, die zuvor aufsteigende Luftbläschen gewesen sein mochten. Darunter immer schwärzer werdende Schichten aus Glas, die nichts anderes als zum Stillstand gezwungene Wasserströmungen waren. Vom Grund war keine Spur auszumachen.
Je länger ich in diesen Abgrund starrte, desto unruhiger wurde ich, und dabei hätte ich fast das Strahlen meiner Aura eingebüßt. Im Gegensatz zu mir gönnte sich das Weiße Licht keine Auszeit. Als ich mich wieder gefangen hatte, kam mir eine Idee. »Gut, die Aura ist zwar keine Taschenlampe, aber warum nicht?«, flüsterte ich mir selbst Mut zu.
Zuerst sah es so aus, als würden meine Strahlen an der Spiegelfläche abprallen, aber dann geriet das grüne Glas in Bewegung. Das Ganze erinnerte ein wenig an Wackelpudding, doch irgendwie gelang es mir nicht richtig, mich über meinen Erfolg zu freuen. Zu tief und bedrohlich war die Schwärze unter mir, zu der ich soeben die Tür geöffnet hatte. Unschlüssig blickte ich auf das geschmolzene Glas, das in einem Durchmesser von gut drei Metern Wellen zu schlagen begann, die sogleich wieder erstarrten. Gerade als ich beschloss, nun ausreichend Forschung betrieben zu haben, bemerkte ich ein Glimmen in der Tiefe. Ein feurig rotes Glimmen, das mir seltsam vertraut vorkam.
Kastors Aura.
Einen Moment lang verfluchte ich noch die halsstarrigen Schattenschwingen, Kastors Vertrauen in meine Fähigkeiten und mich selbst im Allgemeinen, dann schloss ich meine Schwingen und tauchte ins Meer ein.
Der Zeitpunkt war gekommen. Es gab nur diese eine Chance.
Der Versuch zu retten, was von ihm übrig geblieben war, würde
die gesamte Kraft aufzehren, die er gesammelt hatte. Er musste sie darauf verwenden, einen Eingang in einen ruhenden Geist zu schaffen. Danach gab es kein Zurück mehr. Außerdem würde dabei der graue Pfad, über den er bislang an Samuel gebunden war, vernichtet werden. Die Verbindung zwischen ihnen wäre aufgelöst. Trotzdem musste er das Risiko eingehen. Denn wenn sie seinen Leib fanden, würden sie ihn endgültig zerstören, da war er sich sicher. Und wenn er dann in diesem Körper, seinem Gefängnis, steckte, würde er mit vernichtet werden. Dank Samuels Kraft war er stark, stark genug für eine Flucht. Und er musste fliehen.
Jetzt.
Während das Weiße Licht
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