Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Wahrscheinlich sogar noch mehr.« Sam schüttelte den Kopf, als wäre alles, was ich gesagt hatte, vollkommen falsch. Wie sehr sehnte ich mich danach, dass er recht hatte, aber ich durfte mich nicht selbst belügen. »Als ich Shirin gemalt habe, hat sie mir von der Liebe erzählt. Sie hat gesagt, man kann nicht bestimmen, wen man liebt, aber man kann sich entscheiden, das Richtige zu tun. Ich will das Richtige tun, Sam. Darum musst du jetzt gehen.«
»Das kannst du nicht wirklich wollen.« Sams Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sein Gesicht war eine Handbreit
von meinem entfernt, doch ich sah ihn nicht an. Durfte ihn nicht ansehen.
»Ich will es nicht, aber ich tu es trotzdem. Geh bitte.«
Ich sah ihm nicht hinterher, als er sich abwandte. Ich sah in den grauen Himmel und machte alles leblos in mir.
Was tun Menschen, die trauern?
Denen gerade jemand verloren gegangen ist, an dem ihr Herz hing? Sich in Schweigen einigeln oder vor sich hin weinen, manche stumm, andere wiederum laut und klagend.
Nachdem der Schutzpanzer, mit dem ich Sam auf Distanz gehalten hatte, aufgebrochen war, tat ich beides. Der Verlust, den ich erfahren hatte, als er gegangen war, riss mich in einen Abgrund. Zugleich erinnerte mich eine strafende Stimme daran, dass ich mir mein Elend selbst zuzuschreiben hatte. Darin lag der Unterschied zum ersten Mal, als ich Sam verloren hatte: Ich hatte auf einer Auszeit bestanden, daran änderte auch noch so lautes Schluchzen nichts. Es war meine Entscheidung gewesen. Das war fast genauso grausam wie der Verlust und die überwältigende Einsamkeit. Ich konnte mich meinem Leid nicht überlassen, sondern sprach mir das Recht darauf ab.
Es war deine Entscheidung, nun steh auch dazu, sagte mir die unerbittliche innere Stimme immer wieder. Nach und nach zeigte sie Wirkung und ich wischte mir die Tränen vom Gesicht.
Sei so stark, wie du vor Sam vorgetäuscht hast zu sein.
Mach jetzt nicht alles kaputt, indem du dir die Augen aus dem Kopf weinst. Das entwertet nur alles, denn es war richtig, auf einer Auszeit zu bestehen.
Mühsam schleppte ich mich die Treppe hinauf in mein Zimmer, wobei jeder einzelne Muskel in meinem Körper
spannte. Auch hinter meiner Stirn pochte es unentwegt. Mein Inneres und Äußeres passten nicht länger zusammen, alles in mir war durcheinandergeraten. Ich ließ mich aufs Bett fallen und verbot mir, auch nur darüber nachzudenken, ob das Kopfkissen vielleicht noch nach Sam roch.
Auch wenn sich dein Rücken wie gebrochen anfühlt, du zeigst jetzt Rückgrat!
Außerdem ist er ja nicht für immer fort. Es ist nur eine Auszeit. Sobald einer von uns beiden eine Lösung gefunden hat …
Eigentlich brauchen wir uns doch nur zusammenzuraufen. Darauf kommt es an.
Ich muss nur mit Sam sprechen, seine Stimme hören …
Mit einem Stöhnen unterdrückte ich diese verführerischen Gedanken. Ich würde an der Auszeit festhalten, allein deshalb, weil zu viel in zu kurzer Zeit geschehen war. Ich musste mein inneres Gleichgewicht wiederfinden, um entscheiden zu können, was richtig und falsch war.
Voller Zorn dachte ich an all die Filme und bescheuerten Liebeslieder, in denen immer so getan wurde, als würde sich alles von selbst in Wohlgefallen auflösen, wenn man nur kräftig an die Liebe glaubte. Von wegen: Liebe kann Berge versetzen. Na, vermutlich konnte sie das auch, nur stellte sich eben die Frage, wer unter dem Berg begraben wurde.
Erneut liefen mir Tränen über das Gesicht, allerdings aus Wut.
Die Liebe war so ungerecht und eine einzige Quälerei. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, Samuel Bristol niemals begegnet zu sein. Die ganzen berauschenden Gefühle, die er in mir geweckt hatte, kehrten sich nun gegen mich, genau wie die erlebte Zweisamkeit mir nun grausam vor Augen führte, wie schrecklich es war, allein zu sein. All das wäre mir erspart geblieben, genau wie die Trauer, als er verschwunden war, und das Chaos, in das sich mein
Leben seit seiner Rückkehr verwandelt hatte. Ohne ihn wäre ich jetzt frei und unbeschwert, einfach ein anderes Mädchen. Nun trug ich seine Prägung. Dafür hätte es nicht einmal dieses Ringes bedurft, der als Symbol für unsere Verbundenheit stand.
Wie im Fieber starrte ich den Ring an. Ein honigfarbenes, perfekt gearbeitetes Schmuckstück. Bernstein aus der Sphäre. Form gewordene Vergangenheit, hatte Shirin es genannt. Nun, meine Liebe hatte es mir nicht erhalten können. Schattenschwingen-Magie. Ich hätte wissen müssen,
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