Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
hatte. Als ich es entfaltete, blickte ich auf das Porträt eines Mädchens, das mir sehr ähnlich sah, mit kurzem Haar und einem Oberteil, das sich nicht einmal annähernd mit meinem Kleid messen konnte. Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht fesselte mich. Wen lächelte sie an? Ohne dass ich es bemerkte, probierte ich dieses Lächeln nachzuahmen, doch es misslang. Ich versuchte es erneut und scheiterte ein weiteres Mal. Dabei wurde meine Neugier nur größer. Was war der Grund für ihr Lächeln? Ich wollte es unbedingt wissen.
Ich war so vertieft in die Betrachtung des Porträts, dass ich Nikolais Abwesenheit vollkommen vergaß. Eine seltsame Veränderung der Atmosphäre drang schließlich zu mir durch. Eben war noch ein kräftiger Wind gegangen, der frisch und herb in meiner Nase brannte, jetzt stand die Luft. Sie war dick, beinahe ölig, und mir war, als trüge sie eine elektrische Spannung. Ich sah mich nach dem Auslöser um und erblickte stattdessen Nikolais Silhouette. Er kehrte bereits zurück, viel zu schnell … Hastig steckte ich das Papier in den Ärmel, nur um mich anschließend über mich selbst zu wundern. Es gab keinen triftigen Grund, diese Zeichnung vor ihm zu verbergen. Er kannte sie zweifelsohne, denn er kannte alles, was mich betraf. Und doch … das Lächeln der gezeichneten Mila hatte nichts mit ihm zu tun, egal, wie sehr ich es mir auch einredete. Es galt einem anderen.
Nikolai setzte leichtfüßig auf dem Grund des Turms auf. Ein leichtes Flackern ging durch seine Aura und kündete davon, dass, was auch immer er soeben getan hatte, kraftraubend gewesen war. Ohne Zögern nahm er meine Hand, die ich ihm anbot, und schon lebte sein wie in Eis gemeißelter Strahlenkranz auf.
»Es ist mir ein Rätsel, wie ich zuvor ohne dich überlebt habe.« Ich lächelte, doch Nikolai sah mich ernst an. »Das war kein Kompliment, sondern mein purer Ernst: Ich weiß nicht, wie ich es allein ausgehalten habe, und ich will nicht einmal daran denken. Wenn ich ein Pfeil bin, dann bist du das Ziel. Du bist alles, was ich habe, das Einzige, was zählt. Mein ganzes Tun ist darauf ausgerichtet, dass uns beide nichts auseinanderbringt. Du und ich, Schattenschwinge und Sterbliche, wir stehen für zwei verschiedene Welten, und doch sind wir eins. Das habe ich erst jetzt begriffen, nach so langer Zeit. Dabei hatte mir die Traumpforte längst meine Bestimmung offenbart. Ich habe dagegen angekämpft, voller Angst, welche Folgen es haben könnte, mit einem Menschen verbunden zu sein, alles mit ihm zu teilen. »
Alles zu teilen … Bei diesen Worten regte sich leiser Widerstand in mir. Wir teilten nichts, sondern ich überließ mich seinem Willen.
Ich hatte keine Ahnung, woher dieser unverständliche Gedanke kam. So fest, dass es schmerzte, riss ich an einer Haarsträhne, frustriert über meine gegensätzlichen Empfindungen in einem bedeutungsvollen Augenblick. Nikolai war voller Überzeugung, während ich wankelmütig war, ein Ziel, das in der einen Sekunde getroffen werden wollte und in der nächsten schwankte. Automatisch suchte ich nach dem Pfeil in meinem Inneren und hoffte, er möge mich nun endlich treffen, mich, sein Ziel.
»Du und ich, wir werden vollkommen miteinander verschmelzen, und das Gleiche wird mit unseren Welten geschehen. Den Schlüssel dazu trage ich in mir: Es ist meine Pforte«, spann Nikolai seinen Plan fort.
»Die Menschenwelt und die Sphäre sollen durch die Traumpforte eins werden?«, fragte ich ungläubig. »Aber das geht nicht, sie sind getrennt voneinander, das Reich aus Schwarz und Weiß liegt dazwischen, wir können nur Brücken schlagen. Du hast es doch auch gesehen, damals, als die Aschepforte einstürzte.«
Nikolai betrachtete mich mit dem gleichen Wohlwollen, das man einem kleinen Kind entgegenbringt, das seine ersten eigenen Schritte macht. »Wenn meine Pforte unendliche Ausmaße annimmt, dann dürfte eine Verschmelzung gelingen. Und was ist grenzenloser als der menschliche Traum? Wenn du das nächste Mal einschläfst, wirst du den Turm in meine feste Pforte verwandeln. Ich werde sie ausdehnen, so weit wie die Sphäre reicht, und dann werde ich in die Menschenwelt hinübergehen, gemeinsam mit dir.«
»Und was wird aus der Menschenwelt, wenn du die Pforte auf deren Seite öffnest?« Eine törichte Frage. Wenn die Traumpforte die Sphäre verschlang, dann würde sie kaum Halt machen vor ihrem Abbild. Sie würde die Menschenwelt mit der gleichen Verve vereinnahmen, mit der Nikolai mich
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