Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
hat genug Angst ausgestanden, und Mila erreichen kann keiner von euch beiden.«
Hin und her gerissen stand Rufus zwischen Lena und mir. »Ich will Mila helfen«, sagte er, wobei deutlich wurde, dass er nicht wusste, worin diese Hilfe bestehen sollte.
Lena half ihm bei der Entscheidung. »Solltest du nicht mitgehen, werde ich auch bleiben, obwohl mir die Vorstellung, mich Nikolai entgegenzustellen, ziemlich Schiss macht. Er ist echt erbarmungslos, wenn man sich seinem Willen widersetzt, und Mila ist es an seiner Seite auch.«
»Sie ist meine kleine Schwester«, hielt Rufus schwach dagegen.
»Im Augenblick ist sie Nikolais Gefährtin und nichts anderes. Wenn du ihr gegenübertrittst, wirst du ein Fremder für sie sein, mit dem sie nichts verbindet. Mila ist an eine Schattenschwinge gebunden und nur eine Schattenschwinge kann sie erlösen.« Lena streckte die Hand aus und nach einem kurzen Zögern nahm Rufus sie. »Glaub mir, eigentlich würde ich lieber meine Zunge runterschlucken, als es zuzugeben, aber ich pack es nicht, Mila gegenüberzutreten, wenn sie nicht sie selbst ist. Das macht mich noch viel verrückter als diese schreckliche Sphäre oder die Angst vor Nikolai. Ich habe nicht mehr die Kraft dazu.«
»Das brauchst du auch nicht«, erklärte Rufus liebevoll. »Du hast genug getan, mehr als irgendwer von dir erwarten konnte.« Dann wendete er sich mir zu. »Ich wünschte, ich könnte so etwas Lässiges sagen wie ›Bring mir meine Schwester heile zurück‹, aber das wäre wohl übertrieben angesichts der Tatsache, dass dieser Nikolai dir vermutlich den Kopf von den Schultern schlagen wird und Mila lächelnd dabei zusieht. Wie wäre es also mit ›Lass dich nicht umbringen, Kumpel‹?«
Zu meiner Überraschung gelang mir tatsächlich ein Lächeln, das sogar noch anhielt, als Ranuken mich mit großer Geste umarmte.
»Ich werde ihnen bis hinter die Kampfzone Geleitschutz geben«, sagte Asami.
Ich nickte nur, ohne ihn weiter zu beachten. Es war mir unmöglich, ihm dafür zu danken. Nicht nachdem er mir den größten Freundschaftsdienst, den ich mir überhaupt vorstellen konnte, verweigert hatte.
35 Schall und Rauch
Mila
Der Turm, auf dessen Spitze Nikolai mich absetzte, war so hoch, dass er über das Wolkenband hinausragte.
Eine einsame Nadel mitten im Blau des Himmels.
Obwohl der Tag bereits angebrochen war, zeigte sich selbst in dieser Höhe kein Sonnenschein. Es herrschte Zwielicht, ein Gestirn wie die Sonne war nirgends auszumachen, und ich fragte mich, von woher der helle Glanz stammte, der sich wehrhaft gegen den Dunstschleier behauptete.
Ich weiß es auch nicht , antwortete Nikolai, bevor ich meine Frage überhaupt stellte. Aber sofern dir die Sonne fehlt, werden wir eine erschaffen.
Ich ließ die Vorstellung einer nach meinem Willen geformten Sonne auf mich einwirken, dann schüttelte ich den Kopf. »Das ist nicht notwendig.«
Nikolai trat dicht neben mich und streichelte sanft die Linie meines Oberarms. Obwohl mein Kleid lange Ärmel hatte, bildete sich entlang der Spur seiner Liebkosung eine Gänsehaut, denn es gab keine Grenze mehr zwischen uns. Wenn er nahm, so erkannte ich es nicht mehr als Nehmen. Der Austausch zwischen uns war zu einem steten Fluss geworden.
Bedrückt dich etwas?
Warum fragst du, wo du doch ohnehin jeden meiner Gedanken kennst?
Ich sprach die Frage nicht laut aus, sondern formulierte sie ganz deutlich im Kopf, um herauszufinden, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag. Nikolais Lächeln war mehr als Beweis genug dafür, dass er tatsächlich meine Gedanken las.
»Es gelingt mir allerdings nur, solange du mich einlässt. Außerdem ist es nicht unanstrengend, einem Menschen nah zu sein, das muss ich wohl erst noch lernen. Es sind einfach zu viele Eindrücke, die auf mich einstürzen.«
Ja, das kenne ich, wollte ich antworten. Doch wann sollte ich diese Erfahrung gemacht haben? Schließlich gelang es mir nicht, an dem, was in Nikolais Innerem geschah, in gleichem Maße teilzuhaben wie er an meinem. Gelegentlich kreuzten sich unsere Gedanken, vollkommen willkürlich, wie mir schien. Und seine Gefühle wallten mir von allein dermaßen eindringlich entgegen, dass ich sie unter keinen Umständen hätte blockieren können. Ich war ihm ausgeliefert, während er wenigstens noch einen Hauch von Kontrolle besaß. Letztendlich war es gleichgültig, denn selbst wenn Nikolai mich vollends vereinnahmte, so war mir das herzlich willkommen. Ich brauchte keinen Rückzugsort. Seine
Weitere Kostenlose Bücher