Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Sehnsucht nach mir, seine Ungeduld und sein Verlangen reichten aus, etwas darüber Hinausgehendes konnte ich unmöglich empfinden. Oder?
Während ich noch in den Empfindungen schwelgte, die von Nikolai zu mir durchdrangen, tauchte plötzlich – wie aus der Tiefe – das Gesicht des Fremden mit den Meeresaugen auf, der den Schutzwall unserer Festung gespalten hatte. Ein von Erschöpfung und Verwirrung gezeichnetes Gesicht, zu dem seine klar strahlende Aura im Kontrast stand. Seine raue Stimme drang zu mir durch, die Art, mit der er meinen Namen ausgesprochen hatte … Darin hatte so viel Vertrautheit gelegen. Mehr als Vertrautheit …
Dieser Junge hatte etwas in mir gesehen, das ich nicht war, als würde er eine andere Mila meinen. Wie wäre es wohl, dieses Mädchen zu sein?
Ich wusste doch, dass dich etwas bedrückt. Diesen Jungen solltest du besser gleich wieder vergessen, er stiftet nur Unruhe. Mit einem Handstreich wischte Nikolai die Erinnerung an die feindliche Schattenschwinge fort. Dann zog er mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinem Scheitel. Unwillkürlich dachte ich an seine verletzte Wange, wo ihn die Faust dieses Fremden getroffen hatte. Nikolais Atem war kühl. »Mir ist unbegreiflich, warum du dein Haar kurz trägst. Es wäre wunderschön, wenn es dir wie eine dunkle Woge über den Rücken fließen würde«, wisperte er.
Widerwille machte sich in meinem Magen breit, doch das Aufbegehren wurde sogleich von der Intensität seines Wunsches übertrumpft.
Es würde mich glücklich machen, es für dich zu verändern , hallte es mir entgegen. Keine mentale Botschaft, sondern einer seiner Gedanken, die mir durch Zufall zuflogen.
Zumindest hoffte ich das.
Im nächsten Moment hätte ich beinahe laut aufgelacht. Was für eine alberne Vermutung, Nikolai würde versuchen, mich zu manipulieren, mich, seine Gefährtin! Die Entscheidung, seinen Wunsch zu erfüllen, lag natürlich einzig und allein bei mir. Und wenn es ihn glücklich machte, durfte ich ihm diese Kleinigkeit nicht verwehren.
»Falls dir mein Haar lang besser gefällt, dann soll mir das recht sein«, sagte ich, während ich meine Wange an Nikolais Brust schmiegte und seinen Duft einatmete. Weihrauch. Sein Geruch war ganz leicht zu erkennen. Die vage Ahnung von einer anderen Umarmung suchte mich heim, bei der es ebenfalls um den Geruch einer geliebten Person gegangen war, der vertraut und fremd zugleich gewesen war. Jeder Vergleich hatte sich verboten, der Geruch war einzigartig gewesen. Fast glaubte ich, ihn wahrzunehmen, so stark war die Erinnerung.
Unterdessen brummte Nikolai zufrieden, zog seine Hand mit einer fließenden Bewegung von meinem Kopf weg, einem Pinselstreich gleich, der eine Fülle aus dunklem Braun malte, die jetzt bis über meine Hüften glitt. Ein wenig beklommen nahm ich eine lange Strähne und wickelte sie um meinen Zeigefinger. Sie glänzte unnatürlich stark, denn sie war niemals zuvor Wind und Sonne ausgesetzt gewesen und wirkte auch ansonsten unecht. Zu geschmeidig und viel zu elegant für mich.
»Meine Schöne.« Nikolai hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. »Ich muss dich kurz verlassen, daran führt kein Weg vorbei. Als diese Eindringlinge vorhin in die Halle gestürmt sind, haben sie mich von einer wichtigen Angelegenheit abgehalten, die ich jetzt nachholen muss. Du bleibst solange auf dem Turm, ich werde nur einen Augenblick lang fort sein.«
»Nimm mich mit«, bat ich, von einer plötzlichen Furcht erfüllt, während seiner Abwesenheit könnte ein anderer mich hier oben finden. Erneut tauchte das ernste Jungengesicht in meiner Erinnerung auf, dessen meerfarbene Augen aufleuchteten, bis meine Brust sich verkrampfte. Dann begriff ich, dass sich gar nicht meine, sondern Nikolais Angst in mir breitmachte. Er fürchtete sich davor, dass genau dieser Junge mich in der Zwischenzeit finden könnte.
»Es ist nur für einen kurzen Augenblick«, versicherte Nikolai erneut, dann breitete er seine Schwingen aus und verschwand in den Wolken unterhalb des Turms.
Nach einigem Zögern fasste ich an meine Lippen, auf denen er einen Kuss hinterlassen hatte. Sie fühlten sich kalt an, obgleich mir doch siedend heiß sein sollte. Auch sein Streicheln hatte eine Gänsehaut ausgelöst. Es war mir ein Rätsel, warum ich unter seinen Händen fror.
Verwirrt senkte ich den Arm, wobei mir ein gefaltetes Stück Papier aus dem Ärmel fiel. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann ich es dort hineingesteckt
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