Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
einmal Nikolais verändertes Wesen erfasste. Er war nicht mehr in der Lage, seine Gefühle vor mir zu verbergen, ungeachtet, ob es seinem Willen entsprach oder nicht. Ich hingegen lernte gerade, meinen innersten Wesenskern zu schützen, auch wenn er bloß der Größe eines Sandkorns entsprach. Ein Sandkorn, in dem ein ganzer Himmel existierte.
Nikolai musterte mich eingehend, während der Sturm in seinem Inneren sich legte und einem Gefühl von Trauer wich. »Was ist geschehen? Wieso bekomme ich dich nicht zu fassen, obwohl es nichts Wichtigeres für mich gibt? Wenn du anfängst, dich vor mir zu versperren, werde ich mein Ziel nicht erreichen, ganz gleich, wie sehr ich es auch will. In meinem früheren Leben ist mir das nie passiert. Es muss an dieser verdammten Hülle liegen, sie raubt mir meine Entschlossenheit, es ist wie ein Fluch.«
Ich wagte es kaum, meinen Wunsch auszusprechen. »Und wenn du mich gehen lässt? Dann wären wir beide frei.«
Für einige Herzschläge sah es danach aus, als würde er mir tatsächlich zustimmen, mich freilassen, damit ich herausfand, wer ich war, und Nikolai die Gelegenheit bekam, sich mit sich selbst zu versöhnen. Aber ich täuschte mich: Sein Arm fuhr vor und er packte mich hart am Oberarm.
»Niemals«, sagte Nikolai.
∞∞
Von Schmerz und Enttäuschung getrieben, wandte ich den Kopf ab, und da erblickte ich ihn, die Schattenschwinge mit dem Schwert an ihrer Seite, die Nikolai mitten ins Gesicht geschlagen hatte. Den Jungen, wegen dem Nikolai mit mir geflohen war. Lautlos stieg er hinter der Brüstung der Turmspitze auf, die Schwingen durch den Schein seines inneren Lichts fast weiß gefärbt.
Ich sah ihn an, sah seine Lippen ein Wort formen. Er sagte einen Namen … meinen Namen?
Dann nahm Nikolai von mir und wischte den flüchtigen Eindruck davon. Doch allzu lange nahm er nicht, denn er wurde gewaltsam fortgerissen, und ich stolperte rückwärts, bis die Innenwand des Turms mir Halt gewährte. Die Schattenschwinge mit den meerfarbenen Augen hielt Nikolai an der Kehle gepackt und riss ihn mit sich in die Höhe, während ihre Hand zu dem schwarzen Gürtel um ihre Hüften wanderte, als suchte sie nach etwas Bestimmtem. So weit kam der Junge jedoch nicht, denn Nikolai verpasste ihm mit beiden Händen einen Stoß, der ihn mehrere Meter fortschleuderte.
»Du!«, brüllte Nikolai und zeigte mich dem Zeigefinger auf mich. »Ich will, dass du einschläfst und träumst. Sofort.«
In rasantem Flug hielt Nikolai auf mich zu, und je näher er kam, desto eindringlicher wurde die Schwärze in meinem Inneren, gegen die ich verzweifelt ankämpfte. Er wollte mich hinabzwingen ins Reich der Träume, das sich mir verführerisch weich anbot, doch das strahlende Licht der anderen Schattenschwinge hielt mich gebannt. Es war nicht die Zeit für Träume, wenn die Sonne am Himmel stand.
Die fremde Schattenschwinge hatte sich wieder gefangen und setzte Nikolai nach, der jedoch schneller war. »Wag es nicht noch einmal, Mila anzufassen«, rief er ihm aufgebracht hinterher.
Sowohl seine Stimme als auch der Name lösten eine ungeahnte Wärme in meiner Brust aus, die von einer anderen Art war als der Schlaf, dessen Sog weiterhin an mir zerrte. »Mila«, wiederholte ich den Namen gleich einer Losung, während meine Knie, übermannt von der Müdigkeit, nachzugeben drohten.
Mitten im Flug verharrte Nikolai, machte dann eine Kehrtwende und versetzte der heranbrausenden Schattenschwinge einen Fausthieb, der diese ins Trudeln brachte.
»Du bist ein Narr, Samuel. Warum bist du nicht gegangen, als du begriffen hast, dass sie jetzt mir gehört? Du bist ein Fremder für sie, akzeptier das endlich. Du hast deine Chance gehabt, ein Teil von uns zu sein, und du hast sie verstreichen lassen.«
»Ich kann mich immer noch als Medium zwischen euch stellen«, bot die Schattenschwinge namens Samuel an, während er sich das Blut aus dem Gesicht wischte. Seine Augenbraue war aufgesprungen. Langsam näherte er sich Nikolai, der ihn aufmerksam beäugte, so aufmerksam, dass der Sog des Schlafs nachließ. Er konnte sich unmöglich auf beides konzentrieren.
Ich stolperte zur Brüstung und betrachtete die beiden einander umkreisenden Schattenschwingen, erstaunt über ihre Gegensätzlichkeit: An Nikolais Erscheinungsbild war alles hell und golden, von seinem Haar bis hin zum Ton seiner Haut, während der Eiskranz seiner Aura kalt und schneidend war. Samuels Äußeres hingegen konnte gegen Nikolais Schönheit zwar
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