Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
und ein wenig schräg. Mit Lärm und Neckereien, die von dem Wissen geprägt waren, dass man zusammengehörte und sich solche kleinen Ausfälle problemlos leisten konnte. Dass Rufus allerdings so ohne Weiteres das Haus verlassen hatte, gab mir zu denken. Der bestand doch selbst dann auf seinem Guten-Morgen-Kaffee, wenn sein Leben davon abhing, dass er endlich aufbrach.
Ein Blick auf die Uhr bewies: Mir blieben exakt sieben Minuten plus der knappen Viertelstunde, die ich mit dem Fahrrad zur Schule brauchte, falls ich nicht zu spät kommen wollte.
Und das wollte ich auf gar keinen Fall!
Gemeinsam mit Sam hatte ich gestern sämtliche Matheaufgaben gelöst und wollte es mir mit Frau Olsens Gunst nicht sofort wieder verscherzen, indem ich zu spät in ihren Unterricht platzte.
In neuem Rekordtempo schlüpfte ich unter die Dusche und noch halb nass in irgendwelche Klamotten, griff meine Tasche in der Hoffnung, dass schon alles Notwendige drin sein würde, und war schneller an Reza sowie der schnurrenden Pingpong vorbei, als meine Mutter ein »Guten Morgen, Schatz« herausbringen konnte. Laut nach Luft schnappend, schaffte ich es kurz darauf, gerade noch rechtzeitig hinter Frau Olsen ins Schulzimmer zu schlüpfen. Na, bitte, geht doch!
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte meine Mathelehrerin mich, während sie die Tür zuzog. Zuvor schaute sie noch einmal nach, ob nicht ein weiterer Schüler im Spalt auftauchte.
Weil mir zum Sprechen schlicht der Atem fehlte, holte ich mein Aufgabenheft hervor und zeigte ihr die tipptopp gelösten Aufgaben.
Frau Olsens Mundwinkel fielen nach unten, nicht ganz die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte.
»Ah, wie ich sehe, ist es wenigstens in einer Hinsicht zu begrüßen, dass Samuel Bristol nach St. Martin zurückgefunden hat. Sie können uns ja sicherlich nicht nur die Lösungen vorführen, sondern auch den Rechenweg dorthin erklären, Mila. Nicht dass sich noch der Verdacht auftut, Sie wären nur gut im Zahlen-Notieren und nicht im Rechnen.«
Nun fehlte mir nicht nur die Luft zum Reden, sondern ich wusste schlicht nicht, was ich zu einer solchen Unterstellung sagen sollte. Natürlich hatte Sam mir nicht einfach die Lösungen diktiert, dass würde er niemals tun. Dass ich die Aufgaben hinbekommen hatte, war meine Leistung – er hatte mir lediglich mit seiner Technik, Mathe gegenständlich darzustellen, auf die Sprünge geholfen. Aber nur mit so viel Hilfestellung, wie unbedingt nötig gewesen war.
Frau Olsen nahm mein Schweigen allerdings als Bestätigung für ihre Vermutung. »Habe ich mir schon gedacht, dass Sie sich für solche Tricks nicht zu schade sind. Richten Sie Samuel aus, dass ich zwar verstehe, wenn er Zeit mit Ihnen verbringen will, aber Ihre Aufgaben müssen Sie trotzdem selbst erledigen. Damit Sie sich das merken, werde ich Ihnen heute null Punkte eintragen.«
»Ich kann das rechnen«, brachte ich bestürzt hervor.
»Machen Sie sich nicht lächerlich, ich kenne Ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Und ich kenne Samuel, er war der beste Schüler in meinem Mathe-LK. Nun setzen Sie sich endlich.«
In den Reihen hinter mir wurde gehässig gekichert, aber ich konnte es keiner Person zuordnen. Vermutlich weil es mehrere zugleich waren.
Unter den Blicken der anderen setzte ich mich an meinen Platz und versuchte, aus dem eben Geschehenen schlau zu werden. Sam waren solche Aktionen, bei denen er von der Seite angegangen wurde, bislang nicht untergekommen – zumindest hatte er es mir gegenüber mit keinem einzigen Wort erwähnt. Bis auf den lästigen Kraachten vom »Treibgut« und Sams Schwester Sina, die keinen Kontakt mehr wünschte, hatten die Leute sich verständnisvoll gezeigt und waren sehr froh gewesen, dass er unbeschadet wieder aufgetaucht war. Mit mir wurde allerdings nicht annähernd so zurückhaltend umgesprungen. Gerade in der Schule bekam ich die Neugier meiner Mitschüler und auch einiger Lehrer zu spüren. Jede Pause war ein Spießrutenlauf, weil ich von allen Seiten gemustert wurde. Ich war schließlich das Mädchen, wegen dem Sam Bristol aus dem Nichts zurückgekehrt war.
»Ist doch nicht schwer zu verstehen«, hatte Pia aus meiner Handballmannschaft erklärt, nachdem ich bei einem Freundschaftsspiel gegen das Team einer Nachbarschule von einer Gegenspielerin mit den Worten »Und was genau soll an der Braut bitte schön das Besondere sein? Sieht jedenfalls nicht nach viel aus« empfangen worden war.
Pia gehörte zu der Sorte Mädchen, die kein
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