Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
nichts an der Tatsache änderte, dass wir deshalb kein Stück weniger eng miteinander befreundet waren. Es fühlte sich sogar besser an, freier. Und trotzdem …
»Willst du mir wirklich nichts erzählen, Lena? Mich quält die Neugier. Falls du echt eine Rufus-Bändigerin bist, dann muss du mir dein Rezept verraten. Sind Drogen im Spiel oder hast du herausgefunden, auf welche Stelle seines Sturschädels man schlagen muss, damit er richtig funktioniert?«
Lena freute sich merklich an meiner Neugier. Sie setzte sich im Schneidersitz neben mich, was wegen der unterschiedlich hoch gelagerten Teppichrollen gar nicht so einfach war, und kramte ausgiebig in ihrer Beuteltasche. Erst als sie eine Tüte Saure Heringe herausgeholt und mir welche aufgenötigt hatte, bekam ich meine heiß ersehnte Antwort.
»Das klingt jetzt komplett banal, aber ich bin in Rufus’ Gegenwart einfach ich selbst. Ich versuche weder, ihn zu beeindrucken, indem ich supercool tue oder eine noch größere Klappe habe als er, noch will ich ihn davon überzeugen, dass er meine Nähe sucht, weil ich so eine tolle Frau bin. Ich denke nicht länger darüber nach, wie er irgendwas an mir finden könnte, wie meine Reaktionen bei ihm ankommen und dieser ganze Krams, mit dem man eh nur von sich ablenkt. Als er mich im Krankenhaus besucht hat, war ich viel zu erledigt und verstört, um ihm etwas vorzuspielen. Ging ihm übrigens genauso. Jetzt bin ich durchweg Lena, schräg, gelegentlich etwas überdreht, aber eigentlich ganz okay. Und das scheint ihm zu gefallen.«
Sei ganz du selbst … das Motto kam mir verdächtig bekannt vor. Hastig schlang ich einen Sauren Hering hinunter, bei dem sich mir ohnehin die Zunge zusammenkrumpelte.
»Du meinst, du gibst die Reza, um meinen Bruder rumzukriegen?«
Lena dachte einen Moment darüber nach, dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. »Aus der Perspektive habe ich das noch nicht betrachtet. Rufus steht auf mich, weil er seine Mama in mir wiedererkennt. Das ist krank. Igitt.«
»Überhaupt nicht! Psychologisch gesehen ist das einwandfrei. Ich habe neulich erst in einer Zeitschrift gelesen, dass wir immer unsere Eltern heiraten. Also im übertragenen Sinn.«
Vor meinem geistigen Auge stellte ich Sam neben Daniel. Die beiden waren sich auf eine gewisse Art ziemlich ähnlich, mit ihrem Hang zur Verantwortung und der Leidenschaft, mit der sie eine Beziehung führten. Auch in ihrer Ernsthaftigkeit, der natürlichen Autorität, die sie ausstrahlten, ihrer beeindruckenden Silhouette … Oh, das passte ja. Für meinen Geschmack eindeutig einen Tick zu gut. Ich wünschte mir inständig, dieses Thema niemals aufgebracht zu haben. »Lass uns über etwas anderes reden«, schlug ich vor.
Lena nickte eifrig. »Pia aus der Handballtruppe hat sich tätowieren lassen, einen schwarzen Blitz entlang ihrer Handkante. Wenn sie an den Ball kommt, folgt dem Blitz ab jetzt immer der Donner. Saugute Idee, oder?«
»Ich bin begeistert«, sagte ich und schob dann schleunigst ein »Nur weil Pia so ein Tattoo hat, brauchst du es aber definitiv nicht nachzumachen« hinterher.
»Eigentlich wollte ich das eher als Pflichtaufgabe für unser gesamtes Team vorschlagen. Unsere Gegner wären bestimmt schwer beeindruckt.«
»Wir können ja mit einem Edding Blitze aufmalen.«
Lena winkte ab. »Das hätte nicht die gleiche Wirkung. Am coolsten wäre es natürlich, einen magischen Blitz zu haben: Eben noch sieht er aus wie eine besonders kunstvolle Tätowierung, im nächsten Moment wird er lebendig und – bäng! Genau wie bei den Zeichnungen auf dem Rücken der Schattenschwingen.«
Bei der Erwähnung der Schattenschwingen zuckte ich derart heftig zusammen, dass Lena mich bei der Schulter packte, als befürchte sie, ich würde ansonsten abstürzen. Innerlich fühlte ich mich tatsächlich so: als wäre ich gefallen und hart aufgeschlagen.
»Erneuter Themenwechsel?«, fragte Lena reuevoll. »Es tut mir leid, ich weiß nicht, warum ich sie überhaupt erwähnt habe. Vor allem weil ich sie die ganze Zeit zu vergessen versuche. Ich will nicht an sie denken und tue es trotzdem ständig. Vermutlich war der Eindruck, den sie auf mich gemacht haben, zu stark. Und dass sie jetzt schon wieder weg sind und nicht zurückkehren werden … das zu akzeptieren fällt mir irgendwie schwer, obwohl es vollkommen abstrus ist, nachdem mich einer von ihnen beinahe umgebracht hat. Rufus geht es übrigens ähnlich. Er vermisst sie auch …«
Ich konnte kaum glauben,
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