Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Blatt vor den Mund nahm, und genau das hatte ich nach dieser Giftspritze gebraucht. Kein Trösten um jeden Preis wie bei Lena, sondern die nackte Wahrheit.
»Die meisten Mädels haben Sam schon vergöttert, als er nur ein einfacher Schüler gewesen ist«, hatte Pia geradeheraus verkündet. »Jetzt umgibt ihn auch noch so eine geheimnisvolle Aura. Wie der Kraachten geschrieben hat: Man fragt sich, was sich hinter seiner Geschichte verbirgt. Durch sein Schweigen bringt er die Fantasie der Leute erst richtig zum Blühen, ich habe schon die wildesten Theorien gehört. Mein Favorit ist die, bei der er einige Monate lang in einem Spezialcamp à la Alex Rider gewesen ist und zum Geheimagenten ausgebildet wurde. Bleibt nur die Frage, welcher Auftrag ihn in unser verschnarchtes Nest geführt hat: ein irrer Meeresbiologe, der die Welt mit grünem Schleim überziehen will? Kleiner Scherz.« Pia hatte breit gegrinst, aber ich war zu geplättet gewesen, um mitzuziehen. Ihr verging das Grinsen ohnehin ziemlich schnell wieder. »Die Story, in der sein Vater ihn wegen seiner Saufschulden an irgendwelche Menschenhändler vertickt hat und Sam aus Scham schweigt, fand ich hingegen ziemlich krass. Das haben einige ziemlich eklig ausgemalt, sollte man gar nicht für möglich halten, was der einen oder anderen Nase so alles Krankes durch den Kopf geht. Egal, jedenfalls vermutet alle Welt richtig irre Dinge hinter Sams Verschwinden, und das macht die Frage natürlich doppelt so spannend, warum er in Wirklichkeit zurückgekehrt ist. Dass nur du der Grund dafür sein sollst, reicht den meisten als Erklärung schlicht nicht aus. Na ja, und eine ordentliche Portion Eifersucht ist bestimmt ebenfalls mit dabei. Bist halt die Auserwählte, da musst du jetzt durch.«
Ja, daran führte allem Anschein nach kein Weg vorbei, in der Hinsicht lag Pia richtig. Es lohnte sich nicht einmal, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn vermutlich würde sich die Aufregung in ein paar Wochen ohnehin legen. Zumindest redete ich mir das tapfer ein, wenn ich wieder einmal den Gemeinschaftsraum der Oberstufe betrat und dabei eine Gänsehaut bekam von der Kälte, die mir entgegenschlug. Fairerweise muss gesagt werden, dass sich nicht alle so verhielten, einige zeigten sogar bewusst Solidarität. Nicht nur Lena, sondern auch Leute wie Bernhard, mit dem ich bei einer Strandparty einmal einige Sätze getauscht hatte. Bei jeder Gelegenheit grüßte er mich überschwänglich und wurde nicht müde, laut und deutlich zu betonen, wie sehr er sich für mich freue. Trotzdem überkam mich immer häufiger das Bedürfnis, mich unsichtbar zu machen.
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Nach meinem Erlebnis mit Frau Olsen und den fiesen Lachern fühlte ich mich wenig berufen, meine Freistunde in Gesellschaft der halben Oberstufe zu verbringen, und verzog mich stattdessen ins Requisitenlager unter dem Schuldach. Dank Lena wusste ich, wo eine Kopie des Schlüssels versteckt wurde, denn der Hausmeister verspürte in der Regel wenig Lust, mit seinem Schlüsselbund danebenzustehen, wenn Mein-Gott-Walter, unser Lehrer, und sein wildes Theatervolk bis in die späten Abendstunden »Was ihr wollt« auf die Bühne zauberten.
Der Fundus war gar nicht so übel für einen Unterschlupf: ein großer Raum, dessen Dach von Holzpfählen gestützt wurde und der randvoll war mit den ausrangierten Möbeln, Stellwänden und dem Kostümlager. Hier roch es nach Staub und alter Farbe, während das diesige Licht, das durch die mit Moos besetzten Dachfenster fiel, dem ganzen einen unwirklichen Anstrich gaben.
Während Lena das Theaterleben mit ihrer Bühne und der Schauspielerei liebte, sprach mich die Welt dahinter an. In aller Ruhe aß ich eine Banane und begutachtete die im Laufe der Zeit schräg und buckelig gewordenen Kulissen, Spanplatten, die Schüler mit Acrylfarbe in venezianische Paläste und Wüstenoasen verwandelt hatten. Eine Weile fesselte der Schminkkoffer meine Aufmerksamkeit, in dem die Schminkstifte wild durcheinanderlagen. Nur mit Mühe konnte ich dem Verlangen widerstehen, mein Gesicht anzumalen und mich in einen traurigen Harlekin zu verwandeln. Einen, über dessen Wange eine blutrote Träne lief.
Der Gedanke an die Farbe Blutrot ließ mich erschaudern, und ich setzte mich auf einen Stapel alter Teppiche, der zweifelsohne das Zuhause einiger Krabbeltiere war. Trotzdem war es hier gemütlich und vor allem still.
Ich zog meine Knie unters Kinn und versuchte, den Kopf frei zu bekommen. Es gab einfach zu viele
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