Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Dinge, die sich mir aufdrängten und das Alltagsleben, das ich dringender denn je führen wollte, überlagerten: Nikolais Übergriff und sein Ende … Die Frage, wie es in der Sphäre weitergehen mochte, nun, da der Schatten gebannt und die jungen Schattenschwingen eine Ahnung von ihren Fähigkeiten bekommen hatten … Was aus Shirin geworden war, über die Rufus lediglich angedeutet hatte, dass Nikolai sie verletzt hatte, bevor Sam ihn ziemlich rabiat zum Schweigen gebracht hatte … Lauter Dinge, mit denen ich mich früher oder später auseinandersetzen musste, aber im Moment fehlte mir dazu nicht nur der Wille, sondern auch die Kraft. Die Ereignisse waren zu überwältigend gewesen. Sobald ich eine klare Ordnung in das Geschehen der letzten Wochen bringen wollte, breitete sich hinter meiner Stirn ein Wirbelsturm aus, der alles so kräftig durcheinanderwirbelte, bis mir ganz schwindlig war.
In manchen Momenten fühlte ich mich sogar von meinen Gefühlen für Sam überwältigt. Wie sehr sich unsere Beziehung doch auf diesem Eiland der Sphäre vertieft hatte. Diese neue Verbundenheit war berauschend und unheimlich zugleich. Wenn Sam nicht bei mir war, überfiel mich manchmal die Angst, ich könnte daran ersticken, weil er mir trotzdem so dermaßen nah war. Ein Widerspruch, den ich mir nicht einmal selbst erklären konnte: als reichte mein menschliches Ich nicht aus für eine solche Bindung. Sobald er dann vor mir stand und ich die Wärme seiner Aura spürte, die ich selbst in seinem geschwächten Zustand mehr als deutlich wahrnahm, war diese Empfindung vorbei, und ich verspürte auch nicht den Wunsch, Sam davon zu berichten. Im Allgemeinen blendete ich in seiner Gegenwart alles Belastende aus und überließ mich stattdessen unserem »Wir sind ein gaaanz normales Pärchen«-Spiel. Nach der Unruhe der letzten Monate war es Balsam für meine geschundene Seele, mit ihm auf dem Sofa herumzulungern und Musik zu hören oder im Garten Pässewerfen fürs nächste Handballspiel zu üben. Ich fand sogar, dass ich einen Anspruch darauf hatte, unser Zusammensein unbeschwert zu genießen … und trotzdem war da unterschwellig ein schlechtes Gewissen, von dem ich nicht genau wusste, woraus es sich speiste. Dir geht es gut, flüsterte es mir zu. Aber wie geht es den anderen, denjenigen, die du vergessen willst, obwohl sie deine Freunde waren?
Draußen im Hof läutete die Pausenglocke. Hier oben in den Theaterfundus drang lediglich ein gedämpftes Schrillen, als gehörte das Geräusch zu einer anderen Welt, die nichts mit mir zu tun hatte. Genau wie das Wirrwarr aus schreienden, johlenden und lachenden Schülern. Sie waren da unten, ich hier oben in meinem Asyl mit der Aussicht auf eine weitere Stunde Totstellen.
Oder auch nicht.
Jemand rüttelte an der Türklinke.
Ich konnte es nicht sehen, sondern lediglich hören. Dann verrieten mir die quietschenden Angeln und das Tapsen von schwerem Schuhwerk, dass jemand eingetreten war.
Ich blieb sitzen und wartete ab.
Als Lenas bunter Haarschopf über dem Perückenregal auftauchte, lachte ich laut auf, weil es aussah, als hätte sich eine von den Clownsperücken selbstständig gemacht und ginge spazieren.
»Müsstest du jetzt nicht in Kunst sitzen?«, begrüßte ich sie.
»Dieser Töpferkrams, den wir gerade machen, kann ruhig ohne mich stattfinden. Außerdem bekommt Frau Kramer bestimmt nicht mit, dass ich fehle. Die muss die Kerle davon abhalten, ihren triebgeleiteten Humor am Ton auszuleben. Du kannst dir sicherlich mühelos vorstellen, was diese Schweine sich da zusammenkneten.« Dann zeigte Lena mit dem Finger auf mich, als wollte sie mich ausschimpfen. »Aber jetzt lenk nicht von meinem Geniestreich ab: Hab ich’s doch geahnt, dass du dich in diese Staubhölle verkrümelt hast. Zuerst dachte ich, du hättest einen kleinen Abstecher zur Surfschule unternommen, aber ein fixer Blick auf den Gezeitenplan hat mich eines Besseren belehrt. Bei Ebbe seid ihr zusammen, bei Flut getrennt. Du und Sam, ihr seid ordentlich vorhersehbar geworden.«
»Ganz im Gegensatz zu dir und Rufus.«
Lena zuckte lässig mit der Schulter. »Ich weiß nicht, was du meinst. Ich bin doch ein offenes Buch.«
»Aber sicher doch.«
Eigentlich war es Lenas gutes Recht, mich erst dann aufzuklären, wenn ihr danach zumute war. Über das Stadium, in dem man seiner Freundin jedes intimste Detail brühwarm mitteilt, waren wir mittlerweile hinaus. Uns war bewusst, dass jede von uns ihre Geheimnisse hatte, was
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