Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Menschheitsgeschichte, wie auch ich sie gelernt hatte, reine Fiktion waren. Eine Fiktion, um die Menschen vergessen zu machen, dass es je ein Band zwischen den beiden Welten gegeben hatte. Vielleicht überforderten mich die Ausmaße dieser Erkenntnis auch schlicht, zu groß und überwältigend war sie. Nervös massierte ich meine Schläfen und versuchte, mich erneut auf Asamis Worte über die fest errichteten Pforten zu konzentrieren. War es vielleicht möglich, dass beide Welten nach der langen Trennung wieder zueinanderfanden, genau wie Mila und ich zueinander gefunden hatten?
»Wenn ich wollte, könnte ich das Meer also in eine Pforte verwandeln, die jeder durchschreiten kann?« Allein die Vorstellung verschlug mir den Atem.
Asamis Aura verdunkelte sich, was sich für mich, der von ihr umhüllt wurde, wie ein unangenehmes Ziehen anfühlte. »Du könntest vieles, aber dazu musst du über Wissen und Kraft verfügen. An beidem mangelt es dir, vor allem an Letzterem. Was hast du nur getan, dass deine Aura nicht mehr als ein schwaches Glimmen ist? Einmal davon abgesehen, dass es mir Rätsel aufgibt, wie du diesen geschwächten Zustand überhaupt erträgst.«
»Meine Aura ist für mich nicht länger von Bedeutung«, lenkte ich ab. »Du wolltest mich in die Vergangenheit von Mensch und Schattenschwinge einführen. Schon vergessen?«
Asami griff in seinen Beutel und holte einen an beiden Enden spitz zugeschliffenen Kristall heraus. Dann begann er, in der Mitte der Halle nach Zeichen zu suchen. Für mich waren sie unentdeckbar, er jedoch fand sie in Sekundenschnelle und setzte den Kristall mit der Spitze auf den Boden. Wie von unsichtbaren Händen aufrecht gehalten, blieb der Edelstein stehen.
Asami bedeutete mir, zu ihm zu kommen.
»Dieser Kristall ist dazu imstande, die Zeit zu zerschneiden und sie in verschiedene Einheiten zu zerteilen. Wenn du ihn in Bewegung setzt, öffnet er Fenster in die Vergangenheit. Du kannst sie durchschreiten und erlebst längst vergessene Augenblicke, die sich in dieser Halle abgespielt haben. Dabei kannst du umhergehen und Zeuge des Geschehens werden, mehr jedoch nicht, denn du bist nur eine Reflexion, eine Spiegelung des Kristalls aus einer anderen Zeit. Die meisten Personen, denen du begegnest, werden dich nicht beachten, vermutlich sogar nicht einmal sehen. Vermeide es trotzdem, Aufmerksamkeit zu erregen, indem du sprichst oder dich sonstwie bemerkbar machst.«
Mir ging das alles eine Spur zu schnell. »Das ist wirklich großartig, aber ich hätte trotzdem gern ein paar Hintergrundinfos. Wofür diente diese Halle zum Beispiel? Nicht dass ich da plötzlich in eine Orgie reinplatze.«
»Wozu reden, wenn du die Halle mit eigenen Augen kennenlernen kannst?«, hielt Asami gereizt dagegen. »Falls du es allerdings nicht mehr eilig haben solltest, in deine geliebte Menschenwelt zurückzukehren, setzen wir uns eben gemütlich ans Lagerfeuer und ich erzähle dir alles detailliert. Mir wäre das eine Freude, denn im Gegensatz zu dir habe ich alle Zeit der Welt.«
Ich sank in die Knie und starrte den Kristall an. Ein ganz gewöhnliches Stück, vermutlich Bergkristall, klar wie gefrorenes Wasser. Ohne große Erwartungen stupste ich ihn an. Nichts passierte. Er kippte weder um, noch begann er, Zeit zu zerschneiden, obwohl seine Kanten so scharf ge schliffen waren, dass ich ihm dieses Kunststück ohne Weiteres zutraute.
»Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder du verrätst mir jetzt den Trick, mit dem man dieses Ding in Bewegung setzt, oder ich klinke mich in deinen Kopf ein und hole mir die Information auf diese Weise. Was ist dir lieber?«
Asami lachte trocken. »Wäre interessant zu erleben, wie du in meinen Geist gelangen willst, wo du schon froh sein kannst, dass deine Schwingen dich tragen. Aber bemüh dich nicht, ich verrate dir das Geheimnis des Kristalls, das hatte ich ohnehin vor. Um seine Magie zu entfachen, musst du ihm deine Gegenwart überlassen. Fülle ihn mit dem, was du gerade erlebst.«
»Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?«
Schweigen.
»Du willst mich ärgern.«
»Schön wär’s.«
Gut zu wissen, dass Asami mir zutraute, diese vertrackte Zeitkiste zu begreifen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sie auch ohne mein Verständnis funktionierte. Ich fixierte den Kristall und flüsterte: »Alles klar. Hier bin ich, schnapp dir, was du brauchst.«
»Samuel, hör auf mit dem Unsinn.«
Mittlerweile wirkte Asami ernsthaft gereizt, trotzdem gelang es mir nicht, eine
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