Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
schwaches Abbild sich weiterhin auf dem Boden abzeichnete? Mit dem Unterarm schob ich den Vorhang beiseite, der sich schwer und zugleich durchlässig anfühlte. Als könnte er sich nicht recht entscheiden, ob ich nun da war oder nicht.
Amüsiert trat ich vor, um sogleich wieder einen Schritt zurückzusetzen. Das, was ich hier sah, war absolutes Lieder-für-die-Ewigkeit-Material. »Wahnsinn«, flüsterte ich, während die Eindrücke nur so auf mich einstürzten, als ich den Vorhof zu Soras Pforte erblickte. Zuerst dachte ich, in den Steinboden sei ein filigranes Muster eingeritzt, das von innen beleuchtet wurde. Dann begriff ich, dass es sich um einzelne Steine und Felsen handelte, die sich zu einem sich stets wandelnden Gemälde zusammenfügten. Durch die Spalten zwischen ihnen fiel Licht, warm und golden. Und die Wände der Halle waren keine Wände, sondern Sternenstaub, der wasserfallartig über eine unsichtbare Kante rieselte. Der gesamte Vorhof schwebte, und sogar die Marmorsäulen, die den Eingang zu Soras Pforte markierten, tanzten schwerelos im Raum. Die Halle war das reinste Zauberwerk. Asami hatte nicht übertrieben.
Allerdings beeindruckte mich fast in gleichem Maße die anwesende Gesellschaft. Überall standen, flogen und lagerten Schattenschwingen – und zwar gemeinsam mit Menschen, die keinerlei Zweifel daran erkennen ließen, dass sie sich in der Sphäre heimisch fühlten. Obwohl ihr Anblick für mich fremd und faszinierend war, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Schattenschwingen. Genau wie ich legten sie keinen Wert auf Schuhwerk und achteten darauf, dass ihre Schwingen sich ungehindert öffnen und schließen konnten. Ansonsten zeigten sie jedoch nur wenig Gemeinsamkeiten mit den heutigen Schattenschwingen, denen ihr Äußeres genauso gleichgültig war wie ihre Umgebung. Sie gestalteten nichts und erschufen noch weniger.
In der Vergangenheit hingegen zeichnete sich jede von ihnen durch ein höchst individuelles Auftreten aus, ob es nun in einem besonders schönen Körper bestand, den nichts anderes als perlmuttener Schimmer bedecken durfte, oder kunstvoller Schmuck und noch kunstvollere Garderoben. Ich konnte mich an ihrem Anblick gar nicht sattsehen, denn bei der Aufmachung ging es nie ums Protzen, sondern sie war ein Ausdruck der Person, die sie trug – so wie Sora, deren sari-artiges Gewand sie regelrecht umfloss. Schattenschwingen brauchten keine Kleidung, um sich vor den Widrigkeiten der Elemente zu schützen, sie benutzten sie, um sich auszudrücken. Plötzlich fühlte es sich bitter an, dass wir in der Gegenwart keinerlei Wert auf Kleidung legten, denn damit ignorierten wir, wer wir waren, weil wir uns taub gemacht hatten gegenüber unseren Fähigkeiten.
Eine angenehme, männliche Stimme lenkte mich von meinen trüben Gedanken ab. »Es heißt, Soras künftiger Gefährte verfüge über die seltene Gabe, das Ganze hinter den vielen Splittern, aus denen sich die Gegenwart zusammenfügt, zu erkennen. Wenn er diese Gabe unter ihrer schützenden Hand entwickelt, dürfte es interessant sein, was er herausfindet über den Zustand der Welt. Wer vermag heutzutage mehr als einen Bruchteil der gesamten Geschehnisse zu erfassen, und zu begreifen, wie sie zusammengehören?«
Die Stimme gehörte einer Schattenschwinge, deren Erscheinung an einen Pfau erinnerte, so ausstaffiert und anmutig war sie. Sie beugte sich vor, um die Antwort ihres Gesprächspartners besser zu verstehen, der auf einer der Decken lagerte und von dem ich nicht mehr als seine ausgestreckten Beine zu sehen bekam, die in schlichten Hosen steckten. Dabei war seine Stimme so durchdringend, dass sie einem unmöglich entging. Sie hatte etwas Zwingendes, sie dominierte alle anderen Gespräche, obwohl es sich keiner der Umstehenden anmerken ließ.
»Es wird sich zeigen, ob es wirklich ein Segen für den Jungen ist, die Geschehnisse unserer Zeit als Ganzes zu erfassen. Wenn Sora vor Liebe nicht gänzlich verblendet wäre, würde sie von ihm nehmen und sich seine Gabe zu eigen machen, anstatt sie mit ihm sterben zu lassen.«
»Nun, Sora ist eine der mächtigsten und erfahrensten unter uns. Vielleicht gelingt es ihr ja, den Jungen dahingehend zu unterstützen, dass er seine Gabe in den wenigen Jahren, die ihm bleiben, ausreichend entwickelt. Obwohl … sie liebt ihn so sehr, dass sie es kaum wagt, ihn zu berühren und dadurch einen Austausch ihrer Gedanken und Empfindungen durchzuführen.«
Der Pfau lehnte sich zur Seite, um nach
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