Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
einem Trinkkelch zu greifen. Ich erkannte Ask sofort – sein im Tod erstarrtes Gesicht flackerte immer wieder in meiner Erinnerung auf. Dass er noch Ask und noch nicht der Schatten war, verriet seine unversehrte Haut. Er hatte noch nicht herausgefunden, wie man anderen Schattenschwingen ihre Macht raubte. Trotzdem war er auch damals schon eine der eindrucksvollsten Schattenschwingen. Seine Gesichtszüge wurden hart, als er zum Reden ansetzte.
»Entweder fürchtet sich Sora tatsächlich davor, auch nur die geringste Veränderung an ihrem Jungen herbeizuführen, oder sie hat Angst vor dem, was seine Gabe ans Licht bringen könnte.«
»Warum sollte sie sich davor fürchten?«, fragte der Pfau verständnislos.
Ask antwortete nicht, aber ich ahnte, was ihm durch den Sinn ging: Sora vermutete, dass seine Gabe Mael möglicherweise in Schwierigkeiten bringen würde. Jemand wie Ask, der im Hintergrund heimlich seine Macht zementierte, hatte nicht das geringste Interesse daran, dass ein Sterblicher seinen sorgsam aufgebauten Plan durchschaute. Nachdenklich wanderte sein Blick über die Gästeschar, die das Paar erwartete, das heute durch den Austausch der Bernsteinringe seinen Bund besiegeln wollte. Dabei kreuzte sein Blick auch meinen, und einen unerträglichen Moment lang sah ich in seine Augen. Trotz der Distanz zwischen uns spiegelte ich mich in ihnen: Ich starrte in mein Gesicht, in meine vor Schreck und Unglauben weit aufgerissenen Augen, bevor sie von den unsichtbaren Kanten des Kristalls zerschnitten wurden. In immer kleinere Teile, bis sie sich auflösten.
∞∞
Ich fand mich in derselben Haltung wieder, mit der ich mich zuvor vor den Kristall gekniet hatte. Mein Kopf schwirrte, als ich meine Hand ausstreckte, um den Kristall zu bedecken. Er bewegte sich zwar nicht mehr, aber allein die Vorstellung, dass er es plötzlich wieder tun könnte, setzte mir zu. Erstaunlich leicht erhob ich mich.
»Wie lange war ich fort?«, fragte ich Asami, der in meiner unmittelbaren Nähe kauerte.
»Du warst nicht fort, jedenfalls nicht für mich. Und der Kristall … der hat sich nicht länger als ein paar Sekunden gedreht.« Eine steile Falte zeichnete sich zwischen seinen Brauen ab. »Hast du eine Ahnung, was der Kristall sich aus deiner Gegenwart genommen hat, um dir die Vergangenheit zu zeigen?«
In Gedanken ging ich meine Unterhaltung mit Asami durch: Er hatte sich über mich geärgert, weil ich außerstande war, den Kristall zu aktivieren, und darum hatte er seine Aura mit den kläglichen Resten meines Strahlens verbunden. Wie war das genau gewesen, wie hatte sich das angefühlt? Ich wusste es nicht mehr, an dieser Stelle riss meine Erinnerung. Ich zuckte mit den Schultern. »Wird schon nichts Wichtiges gewesen sein. Wenn du mich einlässt, zeige ich dir, was ich gesehen habe.«
Asami zögerte kurz, dann nickte er, wobei ihm sein Widerwille, mir Zutritt zu seinem Inneren zu gewähren, anzusehen war.
»Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich bei dir umzusehen«, beschwichtigte ich ihn.
Mehr als ein abfälliges Schnauben hatte er nicht für mich übrig. Was er dann allerdings zu sehen bekam, brachte ihn sichtlich ins Wanken.
»Ich war auch ziemlich von den Socken. Die feste Pforte, die Menschen in der Sphäre, die öffentlich gefeierte Verbindung zwischen Mensch und Schattenschwinge …«
Asami unterbrach mich harsch. »Dieses Fest endete mit der vollständigen Vernichtung von Soras Pforte, und zwar in dem Moment, als die Verbindung zwischen ihr und Mael geschlossen wurde … Man hat später vermutet, dass jemand ein Zeichen in die Ringe geritzt hatte. Es gab kaum Zeugen des Unglücks, verstehst du? Sie sind fast alle umgekommen in dem Moment, als Sora Maels Hand in ihre genommen hat. Der Vorhof, die Pforte, alles wurde unter den herabstürzenden Steinen begraben. Die Halle, in der wir jetzt stehen, ist ein Ort der Trauer, ein stilles Gedenken an die Vergangenheit, an unsere Welt, bevor der Schatten sich über sie gelegt hat.«
13 Ganz bei dir
Mila
Tapp-tapp .
Was war das?
Ich setzte mich im Bett auf, noch halb in einem Traum gefangen.
Die Leuchtziffern des Weckers standen auf vier Uhr morgens.
Tapp-tapp.
Schon wieder!
Das seltsame Geräusch kam vom Fenster.
Ich schob den Vorhang zur Seite, doch draußen war nichts zu sehen. Dafür fiel mir der trotz Dunkelheit rotgold schimmernde Ring an meiner Hand auf.
Sam musste in der Nähe sein!
Mit einem Griff hatte ich das Fenster aufgerissen und lehnte mich aus dem
Weitere Kostenlose Bücher