Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
nicht alleine durchstehen. Er hat Freunde unter den Schattenschwingen. Na ja, und mich hat er ja auch noch. Ich werde ihn begleiten.«
»Das wirst du nicht!« Reza versetzte ihrem Sohn einen Schlag gegen den Oberarm. »Wir wissen bereits eins unserer Kinder in Gefahr, da werden wir ganz gewiss nicht zulassen, dass du losziehst und dir in einer anderen Welt etwas zustößt. Was für eine grauenhafte Vorstellung.«
Rufus rieb sich die getroffene Stelle. »Mama! Ich bin erwachsen, ich tue, was ich will. Ich werde Mila und Lena auf jeden Fall helfen. Sag es ihnen, Sam. Du hast mir versprochen, mich in die Sphäre mitzunehmen.«
Wie glühende Kohlen lagen die Augenpaare von allen dreien auf mir, aber ich ließ ihre Hitze nicht an mich heran. »Es gibt einen Grund, warum Nikolai Mila unbedingt haben wollte, von ihrer Gabe einmal abgesehen: weil die Berührung von euch Menschen uns Schattenschwingen in der Sphäre wundersame Dinge tun lässt. Außerdem steht es Rufus zu, sich auf die Suche nach seiner Schwester und Lena zu begeben. Es tut mir leid, aber wenn er mich bittet, werde ich ihn mitnehmen.«
»Dann werde ich euch begleiten«, sagte Daniel Levander entschlossen.
Ich schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht, es sei denn, Ihnen wachsen spontan Schwingen, die Sie durch die Sphäre tragen. Ich werde schon meine liebe Mühe mit Rufus haben.«
»Schwingen?« Rezas Hand fuhr suchend durch die Luft. »Die Tätowierungen auf deinem Rücken …«
Obwohl es mir unangenehm war, streifte ich Hemd und T-Shirt ab, die Rufus aus dem Ärztezimmer stibitzt hatte. Mit dem gleichen freudigen Kribbeln wie immer öffneten sich meine Schwingen, so weit das Wohnzimmer es zuließ. Daniel Levander setzte schreckensbleich einige Schritte zurück, was für einen Mann der Wissenschaft eine verhältnismäßig tapfere Reaktion war, während sich auf Rezas Zügen kindliches Entzücken ausbreitete.
»Sam, bist du ein En…«
»Nein, ich bin eine Schattenschwinge«, unterbrach ich sie hastig, wofür ich mir ein Grinsen von Rufus einfing.
»Samuel, du halb nacktes Engelchen«, murmelte er, aber ich verstand ihn trotzdem.
»Ich muss zuerst ein paar Dinge klären, bevor ich in die Sphäre wechsle. Rufus, leihst du mir deinen Wagen? Zu Fuß komme ich nämlich nicht weit.«
»Du willst meinen Wagen?« Schlagartig verging Rufus das Grinsen. »Ich kann dich fahren, wohin du willst.«
»Tut mir leid, das ist eine Sache, die ich allein erledigen muss. Tu mir den Gefallen und geh mit Ranuken zu Shirin, sie ist in der Sternwarte.«
»Das ist wohl nicht dein Ernst. Ich soll ein Team mit Obernervensäge Ranuken bilden?«
Ich blickte zu den Levanders hinüber, deren Aufmerksamkeit ungebrochen auf meine Schwingen gerichtet war. »Du kannst natürlich auch hierbleiben und dich um deine Eltern kümmern.«
»Scheißerpresser«, knurrte Rufus mich an, dann warf er mir seine Autoschlüssel zu.
21 Nach dem Feuer
Von der Halle waren lediglich die Seitenwände aus Beton stehen geblieben, während die Front und das Dach mit seiner Stahlkonstruktion eingestürzt waren. Obwohl der gröbste Schutt bereits geräumt worden war, bot sich immer noch ein verheerender Anblick wegen der geplatzten Bodenplatte, in deren tiefen Rissen nach wie vor Geröll und jede Menge Splitter lagen. So groß der Schaden auch war, der Auslöser für diese Zerstörung war nicht ohne Weiteres auszumachen. Gesprungenes Glas und geborstener Stahl deuteten auf ungewöhnlich hohe Hitzeeinwirkung, aber nirgends waren auch nur ein Hauch von Ruß, Asche oder andere Zeugen von Feuer zu entdecken. Die Wände sahen so frisch aus wie am Tag ihrer Errichtung, als hätten niemals gierige Flammenzungen über sie geleckt. Dem besonders gründlichen Betrachter wäre eventuell feiner Staub aufgefallen, der aussah wie farbloser Stundenglassand. Aber was bedeutet schon ein bisschen Staub?
Ich stand vor einem dieser Absperrbänder, die man ansonsten nur aus Katastrophenfilmen kennt, und blickte auf die Reste, unter denen mein Leben begraben lag. Es war bereits früher Morgen, aber die Dämmerung ließ auf sich warten. Regenwolken zogen auf, ich spürte sie genauso intensiv wie den lockenden Wind aus Westen. Schwing dich in die Höhe, bevor der Regen dich am Boden hält, schien er mir zuzurufen. Das vertraute Kribbeln durchzog meine Rückenmuskulatur, um dann zu verebben, als fehlte mir in meinem Zustand die notwendige Kraft zum Fliegen.
In einem Wohnwagen saß ein Wachmann beim Morgenkaffee,
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