Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
über eine Wiese ging, auf der noch Morgentau und feine Nebelschwaden lagen. Obwohl ich seine Schritte auf dem Gras nicht hörte, wusste ich, dass Asami mir auf dem Fuß folgte.
Offenbar spürte er meine Beklemmung, denn er sagte leise: »Ich will dich nicht bedrängen, aber erst durch meine Hilfe hast du deine innere Quelle überhaupt entdeckt. Wenn ich dir bei diesem Ritual beiseitestehe, wird es schneller und kontrollierter vonstattengehen.«
Das glaubte ich ihm unbenommen, und trotzdem scheute ich die Vorstellung, Asami noch dichter an mich heranzulassen. Ich hatte die Berührung seiner Aura, die sich schützend über meine legte, bereits kennengelernt – und das hier würde weit darüber hinausgehen. Dann schluckte ich meine Bedenken hinunter. Was bedeutete es schon, sich Asami zu offenbaren, wenn ich dadurch rascher zu Mila gelangte? Richtig: nichts. Also drehte ich mich zu ihm um.
»Ich bin dir dankbar für deine Hilfe. Vor allem weil ich mir vorstellen kann, dass es auch für dich nicht leicht ist. Die Distanz zwischen uns aufzugeben, meine ich.«
Asami senkte den Blick. Es ist schwerer, als du denkst, raunte er mir zu.
23 Silberstaub
Die psychiatrische Klinik von St. Martin war in einem Bauwerk aus dem letzten Jahrhundert untergebracht, das eher nach einem Herrensitz aussah als nach einem Gebäudekomplex, in dem neben der medizinischen Fakultät auch verschiedene Kliniken beheimatet waren. Es maß drei Stockwerke, war cremefarben getüncht und hatte weiße Sprossenfenster.
Richtig edel, dachte ich, als ich Rufus’ Wagen auf dem Besucherparkplatz abstellte. Von innen sah es da schon ganz anders auch, obwohl man sich selbst auf der geschlossenen Abteilung, wo mein Vater untergebracht war, um eine freundliche Atmosphäre bemühte. Aber geschlossen war eben geschlossen, da änderten auch die netten Landschaftsbilder auf den Fluren nichts. Zu einem Teil lag das gewiss an meiner überempfindlichen Wahrnehmung als Schattenschwinge, dank derer ich die Atmosphäre und Bestimmung eines Ortes genauso deutlich wahrnahm wie die sonnengelb gestrichenen Wände. Nein, die geschlossene Abteilung der Psychiatrie war kein angenehmer Ort, mit oder ohne Jonas Bristol.
»Also, hier läuft es folgendermaßen ab: Ich muss meinen Besuch erst anmelden. Es kann also sein, dass ich eine Zeit lang warten muss. Willst du währenddessen im Wagen bleiben und Musik hören?«
Asami bedachte mich mit einem Blick, als hätte ich gefragt, ob er sich nicht ein Ballettkleid anziehen und ein paar Pirouetten auf dem Parkplatz drehen wolle. »Selbstverständlich werde ich dich begleiten. Schon deshalb, weil wir keine Zeit haben, auf irgendeine Erlaubnis zu warten. Ich werde sie uns besorgen, weil du, wie ich dich kenne, zu viele Skrupel hast, um die notwendige Beeinflussung vorzunehmen. Außerdem solltest du deine Kraft besser schonen, auch wenn deine Aura sich weitgehend erholt hat. Sie glüht beinahe wieder so stark wie nach deinem ersten Eintritt in die Sphäre. Nicht schlecht.«
Verlegen zupfte ich an meinem T-Shirt herum. Über meine glühende Aura zu sprechen, war so ziemlich das Letzte, worauf ich erpicht war. Dank Asami hatte ich sie zwar erstaunlich schnell wiedererlangt, für meinen Geschmack jedoch auf viel zu vertrauliche Weise.
»Du willst dem Arzt meines Vaters im Kopf herumspuken?«
»Selbstverständlich – falls es notwendig ist.«
Unter anderen Umständen wäre die Idee originell gewesen, ausgerechnet den Geist eines Psychiaters zu beeinflussen. Mit dem ins gebatikte Tuch eingeschlagenen Katana und dem todernsten Asami an meiner Seite, der lediglich mein Karohemd und einen Hakama trug, erschien mir Geistesbeeinflussung als so ziemlich die einzige Möglichkeit, um schleunigst in Jonas’ Nähe zu gelangen.
Tatsächlich schafften wir es mit ein wenig Mühe bis auf die geschlossene Station, wo die schweren Fälle untergebracht waren. Inzwischen war ich heilfroh darüber, dass Asami mit von der Partie war. Ansonsten wäre ich bereits an dem Pförtner gescheitert, der stur auf die Besuchszeiten verwiesen und sich geweigert hatte, den behandelnden Arzt ans Telefon zu bitten. Er schaltete so lange auf Durchzug, bis Asami ihm eiskalt die Idee einpflanzte, dass wir den Termin schon längst vereinbart hätten.
Den menschlichen Geist zu beeinflussen, war leicht. Eine meiner ersten Taten als Schattenschwinge war es gewesen, Rufus’ Erinnerung zu löschen. Allerdings fand ich diese Vorgehensweise nach wie vor unangemessen. Nur
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