Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Verfassung er war und von welchen Medikamenten er ruhiggestellt wurde.
Jonas saß auf einem Stuhl, in ein geflüstertes Selbstgespräch versunken. Unser Eintreten bemerkte er nicht. Er war genauso massig wie eh und je, aber seine Körperhaltung hatte sich verändert: Die ehemals aggressive Spannung, die seine Muskeln hatte hervortreten lassen, sodass er immerzu wie auf dem Sprung wirkte, war einem schlaffen Sich-irgendwie-Aufrechthalten gewichen. Sogar seine Gesichtszüge hingen durch, als brächte er nicht die nötige Energie für ein Mimikspiel auf. Seine Haare standen an den Seiten wirr ab, als wäre er einmal zu oft mit den Händen durchgefahren. Ein Getriebener, der nicht länger die Kraft aufbrachte, sich durch den Tag zu schleppen.
Da saß er also, mein Vater. Der Mann, den ich von klein auf gefürchtet hatte, der meine Kindheit mit einer Spur von Gewalt und Demütigungen durchzogen und dessen Brutalität mir die Mutter geraubt hatte. Ich horchte in mich hinein, auf die Reaktion wartend, die sein Anblick in mir auslöste. Doch da war nichts außer Abscheu. Die Verbindung, die es früher allen Umständen zum Trotz zwischen uns gegeben haben mochte, war spätestens seit meinem ersten Wechsel in die Sphäre gekappt. Für mich war Jonas ein Fremder, mehr Schatten als Mensch. War er überhaupt jemals mein Vater gewesen?
Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass Dr. Felsenbruck seinen Vortrag unterbrochen hatte, allerdings nicht, um zu ein paar Worten anzusetzen, die Vater und Sohn einander wieder annäherten. Vielmehr stand er stocksteif neben mir, die Lider auf Halbmast.
Hast du den Mann abgeschaltet?
Asami zuckte mit der Schulter. Das ahnungslose Gerede war nicht eine Sekunde länger zu ertragen. Paranoide Psychose – auf so etwas können auch wirklich nur Menschen kommen. Mach dir um den Herrn Doktor keine Sorgen, der nutzt seine Auszeit, um sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihm schon lange auf der Seele liegt: ob die dunkelhaarige Nachtschwester sich auf eine Verabredung einlassen würde? Wenn ich den Strom seiner Gedanken richtig lese, wird er damit noch eine ganze Weile beschäftigt sein.
Erneut blickte ich zu Jonas – und setzte vor Schreck einen Schritt zurück, als unsere Blicke sich kreuzten.
»Du«, sagte Jonas.
Ich schwieg, unfähig zu reagieren.
»Du bist falsch«, redete Jonas weiter. Raunend, nicht für unsere Ohren bestimmt. »Du sollst nicht du sein. Du bist nur eine Hülle, du gehörst IHM . Dich gibt es nicht mehr. Dich darf es nicht mehr geben, ER hat dich genommen. Du bist SEIN . Ich habe dich für IHN gezeichnet. Habe das Tor geöffnet, damit ER mit seinen Schatten in dich fließt, dich ausfüllt, anschwillt, die Dämme niederreißt und mit ihr diese verfluchte Stadt. Die ganze verfluchte Welt! Du bist falsch, du warst es von Anfang an. Deine Augen, ich habe es an deinen Augen gesehen, Engelsbrut.«
»Engelsbrut?« Meine Hände schlossen sich unwillkürlich zu Fäusten. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wer ich bin. Nicht, dass es mich überrascht, schließlich hast du die ja ohnehin nie gehabt.«
»Ich weiß genau, mit wem ich es zu tun habe. Viel mehr noch, ich weiß, was du sein wirst: ausgelöscht. Endlich. Dann ist es vorbei.«
Jonas’ Hände umklammerten die Stuhlkante so fest, dass sich die Muskelstränge seiner Unterarme deutlich abzeichneten. Trotz der Monate, die er voller Apathie verbracht hatte, waren sie immer noch beeindruckend. Ich musste unwillkürlich schnaufen. Zumindest diese eine Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen: Meine Kämpferstatur hatte ich eindeutig von ihm mitbekommen.
Ruckartig beugte Jonas sich vor, um mich besser ins Visier zu nehmen.
Sofort lief vor meinem geistigen Auge ein Film ab, echter als die Wirklichkeit: In meiner Vorstellung sprang Jonas auf, schnappte sich den Stuhl und riss ihn mit der Absicht in die Höhe, ihn auf mich niedergehen zu lassen. Mir damit den Schädel zu spalten, den Rücken zu brechen oder was auch immer, Hauptsache, ich stand anschließend nicht mehr auf. Der Film war derart real, dass ich sogar die Zugluft des hochgestemmten Stuhls spürte, obwohl mein Vater keinerlei Anstalten machte, überhaupt aufzustehen.
Zu guter Letzt hatte ich also doch etwas gefunden, das an unsere gemeinsame Vergangenheit anschloss: Für mein Gehirn war Jonas nach wie vor eine wandelnde Gefahrenquelle, weshalb es sofort anfing, mich auf mögliche Schreckensszenarien hinzuweisen. Er wird dich töten, wisperte es immerzu, er
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