Schattenseelen Roman
optimiert. Unter bestimmten Folterarten verschwenden sie viel Energie darauf, ihren Körper am Leben zu erhalten, und die Kraft verlässt sie schneller.« Er sprach mit so einer Gelassenheit, dass Evelyn ein Schauer den Rücken hinunterlief.
»Das ist … grausam.«
»Sie haben es verdient.«
»Ganz sicher nicht!« Kaum hatte sie es ausgesprochen, tat ihr der hitzige Ausruf leid - was, wenn Kilian einen Verdacht schöpfte? Aber er winkte nur ab: »Wenn du länger bei uns bist, wirst du es schon verstehen.«
Sein Handy läutete und erlöste Evelyn von dem Gespräch. Kilian erwachte aus seiner Melancholie. Mit dem Kätzchen im Arm begab er sich auf die Suche. Er spähte unter das Sofa, warf die Zeitungen auseinander, durchstöberte die herumliegende Wäsche. Endlich fand er das Telefon.
»Ney.« Danach folgte ein Ja, dann eine Pause und noch ein Ja. Das Gespräch wurde beendet. »Es war Linnea.«
»Mh.« Die Unterhaltung von vorhin beschäftigte Evelyn noch immer. Sie griff zur Toastpackung, stellte aber fest, dass sie leer war. Und dieser Hunger! Das Essen vermochte ihre Gier nicht zu stillen. Sie erinnerte sich an den Mann an der Bushaltestelle, an den Schimmer, an ihr Verlangen nach seiner Lebenskraft. War sie vielleicht doch eine Nachzehrerin? Sie spähte zu Kilian. Zuerst zaghaft, dann immer intensiver erglühte das Schimmern um ihn herum. So heiß, so verlockend - sie erhob sich, machte einen Schritt auf ihn zu. Es zog sie unwiderstehlich an. Mit halbgeöffnetem Mund näherte sie sich seinem Gesicht.
»Evelyn? Ist alles in Ordnung mit dir?«, erreichte Kilians Stimme ihr Ohr wie durch Wasser.
Akash knurrte drohend.
Evelyn blinzelte. Das Glühen der Aura erzitterte und löste sich auf wie Wasserdampf. »Entschuldige. Was hast du gerade gesagt?«
»Linnea ruft uns zu sich. Sie meinte, es sei sehr wichtig, wollte aber die Einzelheiten nicht am Telefon erzählen.«
»Dann lassen wir sie besser nicht warten.« Mit einer Hand fuhr sie sich über die Stirn. Was war mit ihr los? Nichts, antwortete eine verräterische Stimme in ihrem Kopf. Du wolltest ihn einfach nur küssen … zu Tode. Sie wagte es nicht, ihn anzuschauen, aus Angst, die Gier nach seiner Lebensenergie nicht zügeln zu können. »Ich schätze, sie möchte wissen, was ich mir so überlegt habe. Wegen der Sache, dass sie angeblich meine Mutter ist.«
Insgeheim freute Evelyn sich, aus dem Bungalow herauszukommen. Auch wenn Linneas Domizil wohl kaum ihre Wunschadresse war. Sollte die Königin sie nach ihrer Entscheidung fragen, wüsste sie nichts zu antworten. Ob sie ihr überhaupt glauben sollte? Zu sehr klang die ganze Geschichte nach einer Seifenoper.
Wenige Minuten später saßen sie im Auto und fuhren nach Hamburg.
Das Schimmern, das sich mit neuer Kraft um Kilian herum entfaltete, blendete Evelyn, obwohl sie ihn zu ignorieren versuchte. Der Hunger wütete in ihren Eingeweiden. Sie kämpfte dagegen an. Kämpfte während der Autobahnfahrt und in den Staus der Stadt, kämpfte
auch dann, als sie kaum noch etwas registrierte als die Aura und ihren Hunger. An einer roten Ampel verlor sie ihren Kampf. Einem Impuls folgend, schlang sie einen Arm um Kilians Nacken, zog ihn zu sich heran und presste ihre Lippen auf die seinen. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Sie spürte eine fremde Stärke, die durch ihre Adern strömte und ihren Körper mit Leben erfüllte. Es war köstlich, betörend und …
Im Laderaum wütete der Hund und warf sich gegen die Stahlwand, die ihn von der Kabine seines Herrchens trennte. Kilian zuckte zusammen und entzog sich Evelyns Umarmung. Auch sie ließ von ihm ab. Irritiert starrten sie einander an, während sie von den hinter ihnen wartenden Autos ausgehupt wurden.
»Bitte entschuldige«, wisperte Evelyn. Sie hatte doch nicht wirklich vor … Ihr wurde schwindelig vor Abscheu.
»Nein, nein. Schon okay.« Kilian klang geschwächt. Aber anscheinend hatte er den Vorfall anders gedeutet, im Kuss nicht seinen nahen Tod gesehen.
Evelyn krümmte sich auf ihrem Sitz zusammen. Akash wütete weiter. Von überall hupte es.
Kilian hämmerte mit der Faust gegen die Trennwand. »Ruhe! Aus! Was ist bloß los mit diesem Köter?« In Schlangenlinien fuhr er davon, die Lider zusammengekniffen und tief über das Steuer gebeugt.
»Was weißt du eigentlich über Hexen?«, fragte Evelyn. Sie musste einfach irgendwas unternehmen. Wie
lange würde sie sich sonst noch im Zaum halten können, um niemanden zu töten?
»Mh, wie
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