Schattenseelen Roman
wirklich krank«, sagte Finn plötzlich vollkommen ruhig. »Dein menschlicher Verstand verabschiedet sich. Du wolltest wissen, was du in jener Nacht gerissen hast. Keine Ahnung. Dort, wo ich dich gefunden habe, hast du nicht viel von deinem Opfer bei dir gehabt. Aber ein Reh war das nicht. Denn Rehe tragen keine Hemden, und ich habe einen Stofffetzen in deiner Hand gesehen, der nicht von deinem T-Shirt stammte.«
»Was redest du da …«
»Ich wollte dir helfen. Ich wollte dir wirklich helfen, wieder zu dir zu finden. Aber du lässt mich nicht. Stattdessen wirfst du mir vor, dir deine Auserwählte auszuspannen.«
»Finn, warte. Es …«
»Lass mich in Ruhe. Ich habe genug von dir, von Linnea und deiner beschissenen Gemeinde.« Die Tür des Schuppens klappte zu.
Einige Zeit später kam Kilian ins Haus und ließ sich auf das Sofa fallen. An Evelyn richtete er kein Wort. Was ihr sehr entgegen kam, denn sie fühlte sich auch ohne seine Vorwürfe mies genug. Was hatte sie bloß angerichtet!
Am nächsten Tag schlug die Hitze der letzten Wochen ohne Vorwarnung um. Wohin das Auge reichte, erstreckte sich der graue Himmel. Die Kiefern knarrten unter den Windböen, der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben. Andere hätte all das deprimiert, Evelyn jedoch spürte einen neu erwachten Tatendrang. Sie würde es schon schaffen, ihren Bewachern zu entkommen.
Auf einer Kommode entdeckte sie einen Kamm und begann, ihr Haar zu entknoten. »Sind deine Flöhe eigentlich reinrassig?«, rief sie gut gelaunt, als sie in die Stube trat.
Kilian saß am Küchentisch und streichelte gedankenverloren das Kätzchen, das sich auf seinen Oberschenkeln ausgestreckt hatte. Vor ihm stand eine Tasse Tee, die er genauso wenig beachtete wie Evelyns neckende Worte. Als sie sich zu ihm gesellte, murrte er einen Gruß, ohne von dem Pelzball aufzuschauen. Zu seinen Füßen lag Akash, dessen Blick Evelyn belauerte, doch in der Gegenwart seines Herrchens wagte er es nicht, sie anzugreifen.
»Schlechtes Wetter, was?« Sie setzte sich an den Tisch und bestrich ihren Toast mit einer dicken Schicht Butter.
Leider beherbergte Kilians Kühlschrank abgesehen von der angebrochenen Dose Hundefutter und einer Packung Milch nichts mehr, und das, wo sie so einen Mordshunger hatte!
Kilian beobachtete die Regentropfen, die die Scheibe herunterliefen. »Jetzt werden die Kreaturen aus allen Löchern herauskriechen. Ich hasse das.«
»Meinst du die Nachzehrer?« Sie verschlang ihr Brot und nahm sich noch eine Scheibe, diesmal ohne sie zu toasten.
»Je weniger Sonne, desto besser fühlen sich die Teufelsdinger. Warte erst mal den Herbst und den Winter ab. Kennst du das Sprichwort? Im Herbst fallen Blätter und Menschen. Du willst gar nicht wissen, wie viele von denen auf die Rechnung dieser Verdammten gehen.«
»Ihr jagt sie, und sie jagen euch. Dabei scheint das beide Seiten nicht sonderlich zu beglücken. Warum handelt ihr nicht einen Waffenstillstand aus?«
»Es sind mordlüsterne Bestien!« Kilian knallte die Faust auf die Tischplatte. Seine Tasse kippte um, und Tee rann auf das Holz. »Mit denen kann man nicht verhandeln.«
Evelyn wollte protestieren, bremste sich aber rechtzeitig. »Habt ihr das bereits versucht?«
»Ich würde mir lieber eine Kugel verpassen, als Frieden mit ihnen einzugehen. Die Kreaturen töten uns seit Anbeginn der Zeit. Und weißt du, warum? Weil unsere Lebensenergie sie besser sättigt als die der Menschen.
Wir sind wie Sahnetörtchen für sie! Meinst du, das wird irgendwann aufhören?« Er schüttelte sich und umarmte das Kätzchen, als könne es ihm Trost spenden. »Wir müssen sie vernichten. Das ist unsere Lebensaufgabe.«
»Und was ist mit ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und ein Kind zeugen?« Evelyn stopfte einen weiteren Toast in sich hinein. Ihr Hunger ließ sich einfach nicht besänftigen! »Wie wollt ihr die Nachzehrer überhaupt vernichten, wenn sie unsterblich sind?«
»Einst haben wir sie einfach getötet. Je mehr von ihren Körpern zerstört wird, desto länger brauchen sie, um wiederzukehren. Dann aber entdeckten wir ihren Schwachpunkt. Wenn sie aushungern, sind sie weg. Schluss, aus, Feierabend.«
Evelyn blieb der Bissen in der Kehle stecken. »Ihr lasst sie verhungern?« Sie schluckte hörbar, beobachtete, wie das Rinnsal des vergossenen Tees zur Tischkante lief und auf Akashs Schnauze tropfte.
»Früher konnten sie wochen-, manchmal monatelang überleben. Aber inzwischen haben wir den Vorgang
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