Schattenseelen Roman
Schritte zurück. »Du kleines Miststück!«, zischte sie und ordnete das Haar, um ihre Narbe und das fehlende Ohr zu verdecken.
»Ganz die Mutter«, giftete Evelyn zurück. Vor Verzweiflung hätte sie in die Gitterstäbe beißen können. Sie warf sich auf den Rücken, die Hände an die Schläfen gepresst.
Ein Mann betrat den Saal, hinter dem eine Krähe angeflattert kam. Etwas unsicher blieb er neben dem Podest stehen, bis Linnea ihn mit einem Winken zu sich befahl. Er flüsterte ihr etwas zu, woraufhin ihr Gesicht sich erhellte.
»Dann ist es bald so weit.« Sie strich ihm über die Wange, schaute ihn aber nicht an, sondern blickte über seine Schulter hinweg zum Käfig, auch wenn die blinden Augen Evelyn nicht direkt registrierten. »Aber noch haben wir Zeit. Die Überbringer guter Nachrichten werden belohnt.« Sie schlang die Arme um seinen Hals, zog den Mann an sich und drehte sich zusammen mit ihm um die eigene Achse. »Was wünschst du dir?« Ihr Zeigefinger fuhr seine Nase entlang zu den Lippen und spielte an dem Kinngrübchen.
Evelyn bemerkte, wie Linneas Augen dabei aufflammten, fast so, als entlüde sich ein Gewitter in einem flackernden Blitz. Der Mann vergrub das Gesicht in ihrem Haar und sog ihren Duft in sich ein. Wieder und immer wieder, als könnte er sich an ihr nicht satt riechen. Sein Körper schien zu erschlaffen, und ein Beben fuhr durch seine Glieder. Als er den Kopf zur Schulter neigte, trübte sich sein Blick, wurde glasig wie der eines Drogensüchtigen.
Flieh, wollte Evelyn ihm zurufen, flieh, solange du es noch kannst! Aber er konnte es nicht. Nicht mehr. Es ging nicht darum, was er sich wünschte. Die Königin spielte mit seiner Ergebenheit, zwang ihm Gelüste auf, die er womöglich gar nicht empfand.
Linnea knabberte an seiner Unterlippe. »Ist es das, was du begehrst?«
»Ja. Das ist es.« Seine Stimme leierte wie eine abgenutzte Schallplatte. Den Blick in die Ferne gerichtet, nestelte er an ihrer Bluse. Seine starren Finger bekamen die Knöpfe nicht zu fassen, so riss er die Bluse auf und schob seine Hände unter den Stoff.
Die Krähe hüpfte auf dem Podest, als spüre sie das Unheimliche, das ihr Herrchen um den Verstand brachte.
Evelyn tippte sich an die Stirn. »Und was wird das, wenn es fertig ist?«
Sie hoffte, die Königin würde dieses Marionettenspiel unterlassen - aber weit gefehlt. Linnea scheuchte die Krähe vom Altar und zwang den Mann, sich darauf niederzulassen. Beine und Arme ausgebreitet, lag er regungslos auf dem Stein. Nur seine Brust hob und senkte sich regelmäßig.
Wie ein Opferlamm, flog der Gedanke durch Evelyns Kopf, und sie schüttelte sich.
Stück für Stück entledigte sich Linnea ihrer Kleidung. Bald verbarg nur ihr bronzefarbenes Haar die Nacktheit.
Sie hatte eine traumhafte Figur, registrierte Evelyn nicht ohne einen Funken Neid: lange Beine, wie aus Marmor geschliffen, einen straffen Bauch, feste, runde Brüste mit harten Nippeln.
Linnea legte sich neben den Mann. Ihre Worte galten jedoch Evelyn. »Wie schade. Ich dachte, du wärst
eine von uns, ehrlich. Du hättest alles haben können. Alles und jeden.«
Alles und jeden brauche ich gar nicht, dachte sie. Nur Adrián. Bei seinem Namen spürte sie einen Kloß im Hals. Fast hätte sie ihn angefleht: Rette mich, bring mich fort von hier! Aber er war nicht da, um sie zu befreien.
Linnea packte ihren Liebhaber an den Schultern und zog sich auf ihn. Ihre Hände massierten seine Muskeln, die Fingernägel bohrten sich in sein Fleisch und hinterließen Striemen auf der sonnengebrannten Haut. Die Schlange wand sich um ihren Arm, als errege die Szenerie auch sie. »Hast du mit ihm geschlafen, Lynn? Hast du ihn geküsst?«
Evelyn pustete sich eine Strähne aus der Stirn. »Wenn du jetzt einen Quickie willst - nur zu. Aber muss das unbedingt hier sein?«
Die Königin schien sie nicht zu hören. Oder es war ihr egal. Sie fuhr mit der Zunge über den Hals des Mannes, der dabei aufwimmerte, knabberte an seinem Ohrläppchen. Er zitterte unter ihren Berührungen, gab sich ihr hin wie eine willenlose Puppe.
»Erzähl mir, wie hat er sich angefühlt, als du ihn berührt hast? Wie hat er geschmeckt, als du von ihm genascht hast?«
»Wer, zum Teufel?« »Diese Kreatur. Adrián. Ich bin neugierig: Wie war es, mit einer Leiche zu schlafen?«
Evelyn richtete sich auf dem Ellbogen auf. Seinen
Namen aus diesem verlogenen Mund zu hören - es kam ihr vor, als hätte Linnea ihn mit Dreck bespuckt. »Woher weißt
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