Schattenseelen Roman
sie war unfähig, noch irgendetwas zu empfinden.
Die Schöpfung ist mein Traum …
Sie trat aus dem Nebel und fand sich im hohen
Kreuzgewölbe wieder. Linneas Keller? Wie war sie hierhergelangt, obwohl sie noch vor wenigen Sekunden in Kilians Bungalow gestanden hatte? Dazu bloß in ein T-Shirt gekleidet, das ihr das Nachthemd ersetzte … Ihr schwirrte der Kopf, aber die Schatten drängten sie weiter, ohne ihr zu erlauben, Sorge oder Verwirrung zu empfinden. Nichts. Um sie herum. In ihr drin.
Evelyn schritt voran, während der Nebel hinter ihr herkroch wie ein ergebener Diener. Einige Schwaden eilten ihr voraus, ertasteten die Wände und den Boden mit rauchigen Tentakeln. Sie musste nur einen Finger rühren, um die Bewegungen der Wogen zu steuern, die Rauchschwaden zu ihren zusätzlichen Armen zu machen.
Ein Aufschrei zerriss die Stille. Evelyn erblickte eine Frau mit dem Wiesel auf der Schulter, das sie während des Kampfes gebissen hatte. Vermutlich ein Vorposten, der das Gewölbe vor Eindringlingen schützen sollte. Ohne den Blick von Evelyn abzuwenden, stolperte die Unbekannte rückwärts und fiel zu Boden.
Evelyn hob die Arme. Die Rauchtentakel wickelten sich um die Glieder der Frau und zogen sie zurück, ohne dass diese sehen konnte, was sie fesselte. Ein rotsilbernes Schimmern pulsierte um ihre drahtige Gestalt. So viel Lebenskraft, so viel Nahrung … Das Flimmern brachte Wärme und erweckte Evelyns Gier, die bereits wie ein wildes Tier ihre Krallen wetzte.
Mit einem Satz landete sie direkt neben der Frau,
die vor ihren Füßen zusammengekrümmt lag und stöhnte. Nur einzelne Silben waren zu erahnen, die zu einem »Fahr zur Hölle, du Leichenschlampe« verflossen.
Doch Evelyn weilte nicht mehr in dieser Welt. Was ihren Körper beherrschte, war die Schwärze des Schattenreiches und das begierige Flüstern der Tausend Stimmen. Evelyn packte die Frau am Hals, hob sie auf die Beine und drückte sie gegen eine Wand. Das Wiesel fauchte und sprang Evelyn ins Gesicht. Der Schlüsselbund klimperte zu Boden. Noch in der Luft ergriff sie das Tier und zerquetschte es in der Faust. Wie aus Eisen gegossen, zermahlten ihre Finger die Knochen des Wiesels und drückten ihm die Eingeweide aus dem Maul.
Die Frau bäumte sich auf und keuchte, jetzt vor Angst ergriffen: »Bitte …«
»Danke.« Evelyn presste den Mund an die Lippen des Metamorph-Weibchens. Durch die Glieder der Armen fuhr ein Schauer, als diese den Todeskuss erhielt.
Ein Glühen erfüllte Evelyns Inneres, Blut stieg ihr in die Wangen. Sie saugte die Lebenskraft bis zum letzten Tropfen aus. Sogar als das Glühen erlosch und kein Lebensstrom mehr in sie floss, hing sie noch an den Lippen der Toten. Endlich ließ sie ihr Opfer fallen. Der Körper schlug wie ein Sandsack auf den Steinboden.
Gesättigt und voller Tatendrang hob Evelyn die Schlüssel auf und schritt den Korridor entlang. Die
Nebelschwaden krochen ihr voraus, einige wölbten sich um ihre Knöchel oder wehten ihr hinterher wie ein grotesker Brautschleier.
Der Flur mündete in einen Saal, von dem weitere Gänge in mehrere Richtungen führten. Wohin jetzt? Es spielte keine Rolle. Wenn es nötig wäre, würde sie jeden Stein umdrehen und alle töten, die sich ihr in den Weg stellten. Es würde ihr sogar Spaß machen, den Pesthof so zu zerstören, wie es einst nicht einmal die Armee der Franzosen zustande gebracht hatte.
»Evelyn?«
Nebelarme stürmten in die Richtung, doch Evelyn zügelte den Eifer, als sie Finn erkannte.
»Verschwinde«, warf sie ihm zu. Ihre Stimme klang hohl wie ein Echo und schien von allen Seiten zu kommen.
Er trat auf sie zu. »Wolltet ihr nicht später da sein? Linnea und ihre Jäger sind noch hier. Wo ist Kilian?« Auf halbem Weg verharrte er. »Was ist mit deinen Augen los? Sie sind … wie Blut.«
Blut. Ja, sie wollte es fließen sehen, aber noch konnte sie sich beherrschen. Nicht das seine sollte heute vergossen werden.
»Du stellst zu viele Fragen. Geh.« Sie kam an ihm vorbei.
»Warte!«
Er wagte es tatsächlich, sie an der Schulter zu packen! Evelyn fuhr herum und drückte ihn gegen die Wand. Vor Überraschung schnaubte er und rang nach
Luft. Das Schimmern, das ihn umgab, erzitterte. Doch Evelyns Hunger war gestillt, und sie spürte keine Wärme, die von Finns Flimmern ausgehen sollte. Beinahe enttäuscht ließ sie ihn frei.
Er rutschte an der Wand herunter und versuchte, zu Atem zu kommen. »Meine Güte, was sollte das denn jetzt?«
Sie kniff die Augen
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