Schattenseelen Roman
Nur mit Mühe gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. »Linnea wollte, dass du glaubst, ich hätte dich verraten. Du kannst doch meine Gedanken lesen. Dann tu das! Ich habe vor dir nichts zu verbergen.«
Evelyn öffnete ihm ihren Geist und wartete. Aber es geschah nichts, sie spürte ihn nicht in sich. Nur fünf Wörter: Komm nicht in meine Nähe.
Sie schnaubte wütend. »Einen Teufel werde ich tun!« So einfach würde sie nicht aufgeben. Linnea durfte nicht gewinnen, diese hinterhältige Schlange würde ihn ihr nicht nehmen, nicht so!
Du bist ein Metamorph. Halte dich fern von mir. »Nein. Ich werde dich hier rausholen. Ob du es willst oder nicht. Dann kannst du mich gern hassen bis in alle Ewigkeiten.«
Sie spürte, wie er sich in ihren Armen verkrampfte.
Verstehst du das denn nicht? Ich werde mich an dir
nähren. Noch länger kann ich die Kontrolle nicht halten. Geh!
Wenn ich ein Metamorph bin, wenn auch nur zum Teil, dann sterbe ich vermutlich. Aber wenn …
»… dich das rettet, dann tu es«, beendete sie ihren Gedanken. Hoffentlich hatte er ihre Zweifel nicht wahrgenommen. Hoffentlich würde er es tun!
Nein, bitte. Dafür … dafür liebe ich dich zu sehr.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie und küsste ihn.
Seine gesunde Hand schnellte hoch, packte sie am Nacken und drückte sie fester an sich. Instinktiv wehrte sich Evelyn dagegen, während sie spürte, wie die Kraft sie verließ und das Licht um sie herum verglomm. Erinnerungen durchzuckten ihr Hirn. Erinnerungen, die nicht ihr gehörten und doch … irgendwie die ihren waren. Sie stand im Tierheim vor einem Kaninchenkäfig und spürte das Beben, das ihren Körper erschütterte. Fridolin - ihr Seelentier. Im nächsten Augenblick verschluckte die Finsternis Evelyn. Dann strichen unzählige Seelen an ihr vorbei. Seelen, die sie getötet hatte. Eine der Seelen … ja, es war sie selbst, Evelyn Behrens … eine Nachzehrerin? Ein Metamorph? Alles verdunkelte sich. Keine Bilder mehr, keine Erinnerungen.
War sie gestorben?
Evelyn riss die Augen auf. Noch immer hockte sie im Keller, über Adrián gebeugt. Sein Gesicht wirkte friedlich, als schlafe er. Es ging ihm gut, das wusste sie.
Evelyn streichelte ihm über die Wange. »Ruh dich aus. Dann gehen wir.«
Hinter ihr ertönte ein höhnender Applaus. Evelyn fuhr zusammen und erblickte Linnea mit unzähligen Metamorphen, die sich mit ihren Seelentieren um sie herumscharten.
Die Königin verdrehte die Augen. »Es ist so rührend, dass mir schon fast übel wird. Bist du wirklich so dumm gewesen, hierherzukommen? Habe ich dir nicht gesagt, ich werde dich umbringen, wenn du es wagst, dich gegen mich zu stellen?«
Evelyn erhob sich. »Ich fürchte, da bist du zu spät dran.« Sie nickte zu Adrián. »Er hat es bereits getan. Zumindest den Teil von mir, den man töten konnte. Es gibt keinen Metamorph mehr in mir. Und ich bin froh, nichts von dir in mir zu tragen.«
»Das macht die Sache erheblich leichter, meine Liebe.« Sie winkte ihren Untertanen zu. »Bringt mir diese Kreatur.«
Evelyns Blick huschte zu Adrián, aber er war noch nicht wach. Verzweiflung stieg in ihr hoch. Sie war allein und nicht einmal bewaffnet. Was konnte sie schon gegen die Jäger der Königin ausrichten?
Die Metamorphe rückten auf sie zu. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation lähmte Evelyn und raubte ihr den Verstand. Der Kampf schien vorbei zu sein, noch bevor er begonnen hatte.
Ein Kältezug streifte ihren Rücken, und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Mit einem siebten
Sinn ahnte sie: Der Nebel war zurückgekommen. Unbewusst hatte sie ihn gerufen, und er war da, wie immer, wenn sie fliehen wollte: bei Linneas Angriff im Krankenhaus oder im Wald, in den Kilian sie entführt hatte. Als der vordere Metamorph nach ihr griff, stolperte sie zurück und fiel in die schwarzen Wogen, die sie dankbar auffingen. Sogleich tauchten der Saal und die Angreifer hinter einen Vorhang, der alles vor ihrem Blick verschleierte. Evelyn sah die verblüfften Gesichter.
»Wo ist sie hin?«, ertönten überraschte Rufe, die Evelyn verzerrt und gedämpft erreichten, als wäre sie unter Wasser. Alle Gefühle entglitten ihr. Bald spürte sie keine Angst mehr, keine Verzweiflung. Weder Liebe noch Hass erfüllten ihre Seele. Evelyn war nicht mehr da. Etwas Furchtbares nahm ihren Platz ein und befehligte ihren Körper.
Wir sind hier, um dir zu dienen …
Die Schatten schlüpften in sie und färbten ihre Haut blauschwarz. Ungeahnte
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