Schattenseelen Roman
Fuß wie bei einem Tick. Oft spähte er durch das Fenster oder schaute sich bei dem geringstem Geräusch um, als erwarte er, jeden Moment Linnea zu sehen.
Manchmal verschwand er für mehrere Stunden, ohne zu sagen, wohin er ging. Seit der Auseinandersetzung auf dem Hof hatte Evelyn auch Finn nicht mehr gesehen. Ob er Kilian beschattete? Ob Linnea bereits von ihrem Vorhaben wusste? Ihre Sorge um Adrián wuchs mit jedem Tag. Und gleichzeitig - der Hunger. Noch konnte sie ihre Gier verbergen, aber was dann? Die Nachzehrerin in ihr verlangte nach Nahrung, und kein Brot oder Tee vermochten die Qualen zu stillen. Ab und zu legte sich das Verlangen, um dann mit neuer Kraft in ihrem Leib zu wüten. Das konnte nicht gutgehen! Evelyn überlegte fieberhaft, wo sie Lebensenergie auftreiben könnte. Das Dorf hinter dem Wald lockte sie an wie der Geruch eines Sonntagsbratens.
Nach knapp einer Woche warf Kilian einen Schlüsselbund vor ihr auf den Tisch.
»Ich habe Kopien aller Schlüssel gemacht, um in den Pesthof zu gelangen.« Seine Stimme klang seltsam scheppernd. In den wenigen Tagen war er ein Schatten seiner selbst geworden, die Augen glanzlos, der muskulöse Körper erschlafft.
Was habe ich bloß aus ihm gemacht?, streifte es durch Evelyns Hirn. Wenn sie sich mit dem früheren Kilian ein gemeinsames Leben hätte vorstellen können, lief ihr jetzt bei dem Gedanken daran ein Schauer den Rücken hinunter. Aber es war zu spät, um Reue zu empfinden.
»Wir können nur hoffen«, sprach er weiter, »dass die Königin nichts gemerkt hat. Wenn sie doch … Nein, reden wir nicht darüber. Morgen Abend ist es so weit.«
»Warum erst morgen?«
»Ein großer Teil der Metamorphe wird auf die Jagd gehen. Vermutlich von Linnea angeführt.«
Evelyn inspizierte den Schlüsselbund. »Sind das alle Schlüssel?«
»Alle, die ich auftreiben konnte.« Er schob die Brille das Nasenbein hoch. »Mit Finns Hilfe. Er hat jede Menge versteckter Talente, die in gewissen Situationen äußerst … hilfreich sind.«
»Finn weiß Bescheid? Dann ist alles aus!«
»Nein. Sonst wären wir beide schon längst hingerichtet worden. Ohne ihn wäre ich in dieser Sache aufgeschmissen. Ich kann längst nicht so viele krimi… interessante Erfahrungen vorweisen wie er.«
»Ich verstehe das nicht. Warum hilft er dir? Neulich seid ihr nicht sonderlich freundschaftlich auseinandergegangen.«
Kilian senkte den Blick. »Finn ist nicht nachtragend. Er ist … ein sehr guter Kerl. Ich bin ein Idiot, dass ich
das nicht früher erkannt habe. Er hat mir alles verziehen, was es mir umso schwerer macht, es mir selbst zu verzeihen.«
»Er stellt sich gegen seine Königin, nur weil er ein ach so toller Typ ist? Und das glaubst du ihm? Wach auf! Da sieht sogar ein Blinder, dass er etwas im Schilde führt.«
»Im Gegenzug hole ich ihn aus der Gemeinschaft raus - sich unterordnen konnte er noch nie, dafür liebt er die Freiheit zu sehr. Sein Metamorph-Erbe macht ihn kaputt. Wir drei werden fliehen müssen, wenn Linnea den Verrat bemerkt.«
Evelyn senkte die Arme. »Meinetwegen.«
Für einen Moment klärte sich sein Blick, und sie erkannte in ihm den Kilian, den sie mochte. Er legte einen Arm um sie und drückte seine Wange an die ihre. »Wenn wir morgen dort unten sind, komm dieser Kreatur nicht zu nahe. Das Biest ist inzwischen halbverhungert und unberechenbar. Bitte, sei vorsichtig! Ich will dich nicht an ihn verlieren. Dich nicht!«
Sie strampelte sich von ihm los. »Aber er lebt noch, oder?« Es klang zu leidenschaftlich, als dass sie es hätte noch verbergen können.
»Höchstwahrscheinlich ja. Diese verfluchte Bestie ist eine der stärksten.« Ein abwesender, fremder Ausdruck legte sich über sein Gesicht. »In seinem Zustand würde er über jeden herfallen, der sich ihm nähert.«
»Keine Sorge. Ich passe auf.«
Er schwieg. Lange, bis Evelyn nachhakte: »Gibt’s noch etwas?«
»Ja. Ich habe etwas über die Hexen rausgefunden. Und über Hermann Herzhoffs Tod. Aber das wird dir nicht gefallen.«
Sie unterbrach ihn mit einer nervösen Geste. »Hexen interessieren mich im Moment nicht.«
»Wie du meinst.«
Er ging fort, und den Rest des Tages bekam sie ihn nicht mehr zu Gesicht. Am Abend verzog sich Evelyn früh ins Schlafzimmer. Eigentlich erwartete sie, auch diese Nacht schlaflos verbringen zu müssen. Doch sobald ihr Kopf das Kissen berührte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf, so schnell, als hätte sie jemand bewusstlos geschlagen.
Sie
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