Schattenseelen Roman
zusammen. »Es gibt nur eines, was ich wissen will: Wo ist er?«
Er begriff rasch. »In Linneas Zwinger. Den dritten Gang entlang, zweite Biegung nach links, die Treppe runter, dann gleich nach rechts.«
Sie nickte. »Am besten, du verschwindest jetzt. Hier könnte es bald ungemütlich werden. Solltest du mir im Kampf gegenübertreten, werde ich nicht mehr nett zu dir sein.«
Sie schritt zum Gang.
»Wo ist Kilian?«, hallte sein Ruf ihr nach. Doch sie ging weiter, ohne sich umzudrehen.
Die zweite Biegung links, die Treppe herunter und gleich nach rechts. Eine Metalltür versperrte ihr den Weg. Sie probierte es mit ihrem Schlüsselbund. Einer der Schlüssel passte. Schwerfällig schwang die Tür auf, und sie trat ein, bereit, jeden zu zerfetzen, der sich ihr entgegenstellen sollte. Doch niemand hielt sie auf.
Am Ende des Saals befand sich eine Reihe von Käfigen, und in einem sah sie Adrián liegen. Zum ersten Mal seit Kilians Tod fühlte sie ihr Herz schlagen, als wäre sie wieder lebendig geworden. Als wäre sie, Evelyn,
in ihren Körper zurückgekehrt, ohne noch länger eine stumme Beobachterin des Schreckens zu sein, den sie selbst anrichtete. Die Dunkelheit gab sie frei, der Nebel löste sich auf.
Auf einmal wurden ihre Knie weich, und sie musste sich am Türrahmen festhalten. Adrián rührte sich nicht. Er lag zusammengekrümmt auf der Seite, barfuß, den Rücken gegen die hintere Wand des Käfigs gedrückt. Seine Lider waren geschlossen, das Gesicht eingefallen und bleich. Um den Hals und die Handgelenke zeichneten sich wund gescheuerte Striemen ab - er war wohl angekettet worden, aber in seinem jetzigen Zustand lohnten sich die Mühen anscheinend nicht. Seinen nackten Oberkörper säumten tiefe Wunden, die nicht mehr heilten, als hätten ihn Tiere überfallen und zerfleischt. Nun ja, Tiere gab es hier genug. Diejenigen, die aufrecht gingen, zählten zu der übelsten Sorte.
Evelyn rannte zu seinem Käfig und fiel davor auf die Knie.
»Adrián!«, schrie sie und schob die Hand zwischen die Gitterstäbe, um ihn zu berühren. Sein ausgestreckter Arm, den sie gerade so erreichen konnte, fühlte sich kalt an. Eiskalt. Sie war zu spät gekommen …
Dann merkte sie, wie sich die Haut über seinen Rippen spannte, wie sich seine Bauchdecke hob und senkte. Er atmete, schwach und unregelmäßig, aber er atmete! Auch Evelyn wagte jetzt, Luft zu holen.
Sie drückte die Stirn gegen die Stäbe. »Adrián, hörst
du mich? Du musst noch ein wenig durchhalten. Ich hole dich hier raus.« Mit Fingern, die ihr nicht gehorchen wollten, probierte sie einen Schlüssel nach dem anderen. Keiner passte, und mit jedem Versuch wuchs ihre Verzweiflung. Was, wenn Kilian den Schlüssel zu den Käfigen des Zwingers nicht hatte auftreiben können? Wenn Linnea ihn sicher bei sich aufbewahrte?
Während die Angst sie zerfraß, redete sie immer weiter auf Adrián ein, konnte gar nicht damit aufhören, als gäbe allein das ihr den Antrieb, weiterzumachen. »Niemals hätte ich dich verraten. Es war Linneas Spiel. Sie wollte dich glauben lassen, ich hätte dich in eine Falle gelockt. Aber so war es nicht. Bitte glaub mir!« Der vorletzte Schlüssel ließ sich im Schloss drehen. Sie riss die Tür auf und kletterte zu ihm hinein.
»Adrián«, rief sie, strich ihm die Strähnen aus der Stirn und tastete über sein Gesicht. »Adrián, was soll ich jetzt tun? Ich kann dich nicht tragen.«
Evelyn untersuchte seine Wunden. Sie waren tief, aber nicht tödlich. Keine Blutungen. Das offene Fleisch sah aus, als wäre es mit einer hauchdünnen Frischhaltefolie überzogen - anscheinend begann es zu heilen, aber für den Rest fehlte die Energie. Als Evelyn Adriáns rechte Hand erblickte, wurde ihr schlecht. Die Nägel waren ihm herausgerissen worden, und die Finger ähnelten nur mehr Stummeln, die von angetrocknetem Blut verkrustet waren. Die Hand selbst war nicht bloß gebrochen, sie schien zertrümmert worden zu sein.
Vorsichtig schleifte Evelyn Adrián aus dem Käfig. Er fühlte sich so verdammt kalt an! Sie drückte ihn leicht an sich, um ihn mit ihrem Körper zu wärmen. Er brauchte Lebensenergie, und sie hatte so viel davon! Warum konnte sie ihm die nicht geben? Warum nahm er sich nicht das, was er brauchte? Sie küsste seine Lippen und vernahm ein leises Stöhnen.
»Adrián? Kannst du mich hören? Ich bin hier, um dich …«
Geh! Es hauchte durch ihren Kopf, so schwach, dass sie es im Chaos ihrer Gedanken fast überhört hätte.
»Nein.«
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