Schattenseelen Roman
adoptiert, als sie kaum ein Jahr alt war. Ich habe schon damals gesagt, sie soll dieses Balg nicht zu sich nach Hause holen. Aber auf mich hört ja keiner.«
Adoptiert … Kilian überlegte, was das zu bedeuten hatte. Eine Totenküsserin, die von ihrem Vater den Fluch vererbt bekam und von der Mutter verstoßen wurde? Die Kreatur schwängert eine Frau und macht sich aus dem Staub. Kein Wunder, die Biester waren noch nie sonderlich ansässig oder gar familienfreundlich. Die Mutter kommt mit dem Baby nicht zurecht und gibt es weg. Doch genauso gut könnten Evelyns Eltern Metamorphe sein. Kinder, die keine Verbindung mit ihrem Seelentier eingehen konnten, wurden von der Königin verstoßen. Doch als Säugling? Von solchen Fällen hatte Kilian noch nicht gehört. Bei einem so kleinen Kind konnte nicht einmal die Königin feststellen, ob es sich für eine Verbindung als tauglich erwies.
»Sind Evelyns leibliche Eltern bekannt?«
Gitta atmete scharf ein und hustete. »Damit hat auch alles angefangen«, sprach sie, als sie wieder zu Atem kam. »Helga und Erich - ihr Mann - haben dem Mädel erzählt, ihre Eltern seien tot. Bei einem Unfall gestorben. Sie wollten sie schützen, damit sie ein Leben führen konnte, ohne sich fragen zu müssen, warum ihre leiblichen Eltern sie wie ein abgenutztes Spielzeug weggeworfen haben.«
»Weggeworfen?« Das konnte die Frau unmöglich wörtlich meinen.
»Das Balg wurde auf dem Sperrmüll gefunden, kurz nach der Geburt. Ein Wunder, dass sie überlebt hat.«
Das Bedürfnis, Evelyn in den Arm zu nehmen und
zu trösten, fuhr beinahe schmerzhaft durch seine Glieder. Er wollte sie beschützen. Sogar vor Dingen, die bereits geschehen waren und ihre Spuren hinterlassen hatten. Er wollte so vieles für sie tun, was er nicht konnte …
»Ab ihrem zwölften Geburtstag tauchten Geschenke auf. Alles direkt vor die Tür gelegt, ohne Absender. Und auch Blumen. Schwarzrote Callas, wie für ein Grab. Wir vermuteten, dass die leiblichen Eltern dahintersteckten. Ich habe Helga immer gesagt, sie soll die Sachen wegwerfen, aber …«
»Auf Sie hört ja keiner.«
»Genau.« Gitta nickte ernst. »Als die Göre sechzehn wurde, ist ihr ein Geschenk direkt in die Hände geraten. Und meine Schwester, das Dummerchen, hat ihr alles gestanden. Das Mädel flippte total aus. Diese dumme Gans setzte sich in den Kopf, unbedingt ihre Eltern suchen zu müssen. Aber sie biss sich die Zähne daran aus, das war ja wohl klar. Ab da ging es bergab mit ihr, sie hörte auf keinen mehr, tat, was sie wollte …« Gitta seufzte, warf die Kippe auf den Boden und zertrat sie mit der Schuhspitze. »Ich sag’s Ihnen, alles ist eine Frage der Erziehung. Ich hätte ihr so den Hintern versohlt, dass sie die Striemen bis zum heutigen Tag getragen hätte, zum Andenken. Aber Helga und Erich waren einfach zu weich.«
Kilian zuckte zusammen. Seine Finger zerdrückten die Zigarette, und der Tabak rieselte auf die Erde.
»Verstehe«, murmelte er, obwohl er es nicht tat und
dafür auch niemals hätte Verständnis aufbringen können. Aber er musste das Gespräch am Laufen halten. »Was passierte dann?«
»Es wurde immer schlimmer, was sonst. Sie hing rum, soff und machte für jeden die Beine breit. Sie hat sogar meinen Otmar verführt! Verführt und … umgebracht.« All die Wut und Rage fielen mit einem Mal von ihr ab. Gitta schlang die Arme um sich. Die Strickjacke rutschte ihr von den Schultern und hing an ihren Ellbogen. Wie ein Häufchen Elend stand sie da und schluchzte.
Kilian starrte in die Dunkelheit und war dankbar für die Nacht, die sein Gesicht verhüllte. In den vergangenen Tagen hatte sich seine Welt nur um Evelyn gedreht. Wenn er sich schlaflos auf der Matratze wälzte, hatte er sich vorgestellt, wie sie war, wie sie lachte oder weinte; was sie traurig oder glücklich machte. Nach und nach war ihr Bild in seiner Vorstellung vollkommen geworden. Für ihn war sie ein höheres Wesen, und er verehrte sie fast, wie ein Heide seine Gottheit verehrt. Niemals hätte er gedacht, sich in eine verlieben zu können, die schon unzählige Männer vor ihm bestiegen hatten. Für die eine Vereinigung nichts weiter als ein bisschen Vergnügen bedeutete. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Abscheu stieg in ihm auf. Und trotzdem spürte er sein Verlangen nach ihr, sobald er an sie dachte. Er verfluchte sich selbst für seine Liebe - nein, für seine Sucht, gegen die er sich nicht einmal zu wehren versucht
hatte. Was hatte er
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