Schattenseelen Roman
bloß getan, um das hier zu verdienen?
Er musste sich zusammenreißen. Musste weiter reden, weitere Fragen stellen. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. »Sie haben Ihren …«
»Mann.«
»… Ihren Mann mit … mit dem Mädchen erwischt?« Er weigerte sich, ihren Namen auszusprechen, als wäre dieser etwas Schmutziges, was nicht in seinen Mund gehörte.
»An dem Abend, an dem diese Nutte ihn umgebracht hatte, war er mit ihr unterwegs. Sie sind die Bundesstraße entlanggefahren. Er saß am Steuer, sie sorgte vermutlich für Unterhaltung. An einer Kurve ist das Auto in einen Baum gekracht.«
»Sie ist gestorben?« Es wurde also doch schlimmer. Evelyn war eine Totenküsserin.
»Mein Mann ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Die Göre hat es überlebt.«
Kilian blinzelte. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? War sie nun eine Totenküsserin oder nicht?
Gitta wischte sich die Augen und schluchzte wieder. Auf einmal hatte Kilian Mitleid mit der Frau, denn er fühlte sich ebenso betrogen. Auch wenn er es gewesen war, der sich selbst ein Trugbild vorgegaukelt hatte.
»Mit achtzehn hat sie dann das Dorf verlassen«, fuhr die Frau fort. »Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Letztes Jahr ist Erich gestorben, sie war nicht einmal bei seiner Beerdigung. Helga ist seit langem
krank. Meinen Sie, dieses Ding hätte sie auch nur einmal besucht? Oder angerufen, wie es ihr geht, gar ob die Arme noch lebt?« Sie holte aus der Tasche ein abgewetztes Papiertaschentuch und putzte sich laut die Nase. Das Tuch faltete sie zusammen und verstaute es wieder.
»Das Mädchen war nicht tot? Sind Sie sich sicher?« Kilian wusste nicht, was ihm wichtiger war und was mehr Kummer bereitete: zu erfahren, dass er keine Totenküsserin liebte, dafür aber ein Dorfflittchen und eine Mörderin?
Ein Lachen erschallte. »Absolut. Ich weiß noch, wie ich vor ihrem Bett im Krankenhaus verharrte, den Geräten lauschte und das Kissen in den Händen hielt. Ich war kurz davor, sie zu ersticken.« Gitta senkte den Kopf. »Ich schätze, das sollte ich nicht unbedingt einem Kriminalkommissar erzählen. Aber wissen Sie was? Es ist mir egal. Ja, ich wollte sie umbringen, und ich hätte das getan, wenn nicht eine Krankenschwester ins Zimmer gekommen wäre. Diese Hure hat uns alles genommen, was uns lieb war, und zog weiter, als es nichts mehr zu holen gab. Verdient so eine das Leben?« Gitta blickte mit einer stummen Anklage gen Himmel. Kilian tat es ihr gleich, und so standen sie still in der Dunkelheit und beobachteten das Funkeln der Sterne, jeder in seinem Elend versunken.
Kilian wusste nicht, wie er nach Hause gelangt war. Die Fahrt verlief wie im Halbschlaf, während sich seine
Gedanken um Evelyn drehten und ihn schier in den Wahnsinn trieben. Er wollte sie hassen, doch es war ihm unmöglich. Er wollte sie lieben, aber sein Verstand wehrte sich dagegen. Vor dem Gespräch mit Gitta hätte er keine Minute gezögert und für seine Liebe zu Evelyn sogar seine Gemeinschaft verraten, alles aufgegeben, was ihm lieb und teuer war. Jetzt fragte er sich, ob so eine es wirklich wert wäre.
Wie bei einer Schallplatte mit einem Sprung kehrten seine Gedanken pausenlos zu ihr zurück. Er erinnerte sich an ihren Duft. Der Geruch hüllte ihn ein, erstickte ihn, und es gab kein Entkommen. Wer, zum Teufel, war sie? Warum hatte sie so eine Macht über ihn? Kilian wusste nicht, ob er vor Sehnsucht den Mond anheulen oder vor Wut um sich beißen sollte. Es kam ihm vor, als reiße ihn jemand entzwei und vergnüge sich damit, ihm Qualen zu bereiten. Fast meinte er zu hören, wie er verhöhnt wurde: Wie viel kannst du noch aushalten, mein Lieber? Gib auf, du kannst nicht gewinnen.
Sobald Kilian das Auto auf seinem Grundstück geparkt hatte und ausgestiegen war, witterte er Gäste. Er blähte die Nüstern, um mehr aus dem Geruch zu erfahren. Linnea. Sie wartete auf ihn, zusammen mit jemandem, der nach Federvieh stank. Ein Metamorph, dessen Geruch er nicht kannte.
Mit dem Fuß stieß er die Eingangstür seines Bungalows auf und sah die beiden im Wohnzimmer stehen. Der junge Mann neben Linnea war durchschnittlich
groß - was es Kilian mit seiner Statur erlaubt hätte, ihm ohne Anstrengung auf den blonden Haarwirbel zu spucken - und schmal, was diesen Streich höchstwahrscheinlich ohne Konsequenzen belassen hätte. Der Unbekannte trug ein langärmeliges Hemd, eine verblichene Jeans mit einer Gürtelschnalle in Adlerform und Sneakers, die bestimmt schon
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