Schattenseelen Roman
Schaum vor dem Mund, das bluttriefende Fleisch in ihren Händen, das sie gierig verschlang - die Bilder würde er niemals vergessen können.
»Habe ich was von dem Vieh gefressen?« Das Rohfleisch beschleunigte den Verlauf der Krankheit. Kilian rätselte, wie viele Monate ihm noch blieben, bis er wahllos zu töten anfing.
Als Finn nicht antwortete, blickte Kilian zu ihm hinüber. Irgendwas verschwieg der Typ. Womöglich war es gar kein Reh gewesen? Was, wenn … Nein. Es war ein Tier gewesen, kein Mensch. Einen Menschen würde er niemals überfallen. Nicht einmal im Blutrausch. Das hoffte er zumindest.
Auf einmal wollte er nur noch nach Hause. Duschen, frische Sachen anziehen, sich wieder normal fühlen. Er stand auf und kam ins Schwanken, musste sich an der Linde festhalten. Finn schüttete die Kaffeereste ins Gras. »Komm, ich helfe dir.«
»Fass mich an, und ich breche dir so die Knochen, dass du in die Medizinbücher eingehen wirst. Als Präzedenzfall.« Er stieß sich von dem Baum ab. Der Boden drehte sich unter seinen Füßen und kam auf ihn zu.
Finn stützte ihn. Trotz seiner dürren Statur war er nicht einmal getaumelt unter seinem Gewicht. »Das Risiko gehe ich ein. Müsste ich dann zu einem Tierarzt?«
Zusammen stolperten sie durch den Wald, während Akash hinter ihnen hertrottete. Kilians Füße verfingen sich im Gras. Finn musste ihn durch das Geäst schleppen, und Kilian schämte sich seiner Schwäche.
Die Bäume lichteten sich. Reviergerüche erfüllten die Luft, und er erblickte den Bungalow. Auf einem Zaunpfosten saß ein Greifvogel und putzte sich das Gefieder.
»Dein Seelentier?«, fragte er Finn. Jetzt ahnte er, welches Vögelchen dem Typen zugezwitschert hatte, wo er sich befand.
»Hm. Ein Rotmilan soll es sein. Ein Weibchen. Hab ich mir sagen lassen.«
»Wie heißt sie?«
»Keine Ahnung.«
»Ein interessanter Name. Vor allem: ein seltener.«
Finn verfrachtete ihn auf einen Baumstamm, der die Bank neben seiner Eingangstür ersetzte, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und plumpste neben Kilian. »Ihr könnt das Vieh zurückhaben. Ich will das
alles nicht.« Er grinste schief und lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Hauswand. »Stell dir vor, ich nehme schon Abstand davon, eine Kakerlake zu zertreten. Wer weiß, wessen Seelentier sie ist. Und Mücken - das ist wahrhaftig eine Plage.«
Kilian schmunzelte. Hätte er den Kerl nicht so sehr gehasst, würde er ihn sogar mögen. »Bis jetzt habe ich von keinem gehört, der eine Verbindung zu Insekten eingegangen ist. Nur Wirbeltiere sind davon betroffen, also kannst du die Mücken weiterhin ruhig erschlagen. Wie bist du auf deinen Rotmilan gekommen?«
»Bin auf den Kopf gefallen.«
Kilian hob eine Augenbraue. »Hör zu, Kleiner, ich habe meine Frage ernst gemeint.«
»Ich meine Antwort auch. Es ist eine dumme …«, er senkte die Stimme bis hin zu einem Flüstern, »und vor allem eine peinliche Geschichte. Meine Nachbarin hat mich gebeten, einen Lüster anzubringen. Ich wusste sofort, ich sollte das lieber sein lassen. Handwerken ist nicht mein Ding, ich habe nämlich zwei linke Hände und zehn Daumen. Aber …«
»Sie war eine heiße Braut, und du wolltest ihr imponieren.«
»Nein, eigentlich nicht. Sie war ein graues Mäuschen, aber ich mochte sie. Du solltest ihre Kekse probieren, ich sag dir, das …«
»Seelentier, Verbindung, Lüster! Komm mir nicht vom Thema ab.«
»Ich bin von der Leiter gefallen.«
Kilian prustete los. »Und weiter?«
»Im Bruchteil einer Sekunde dachte ich noch: Wenn ich ein Vöglein wär’ … Ich habe gesehen, wie mein Geist sich vom Körper löst, dahinschwebt und plötzlich in einen Vogel hineinfährt. Eine Nahtoderfahrung, dachte ich, als ich aufgewacht war. Im Krankenhaus meinten die Ärzte, ich wäre im Koma gewesen, aber jetzt fehle mir nichts mehr. Am nächsten Tag folgte mir dieser Vogel überallhin, und am Abend stand Linnea vor meiner Tür.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Es war erschreckend. Ich wusste plötzlich: Ihr wirst du bis ans Ende der Welt folgen, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen, ob du willst oder nicht. Ihr Geruch hat mich um den Verstand gebracht. Seit dem Initiationsritual bin ich nicht mehr ich selbst, Kilian. Sie beherrscht mich, aber ich will ihr nicht gehören.«
Kilian beäugte ihn von Kopf bis Fuß. Der Typ klang ehrlich, denn so viel Abscheu und Verachtung hätte er unmöglich vorspiegeln können. Zumindest nicht ihm, der ein falsches Spiel meistens
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