Schattenseelen Roman
aussah. Mehrfach schaute er sich um, doch er konnte weder den Rotmilan noch den Typen irgendwo ausmachen. Anscheinend folgte ihm tatsächlich niemand.
Kilian war froh, als er endlich die richtige Straße erreicht hatte, und rettete sich aus dem Tumult ins Treppenhaus des grauen Plattenbaus. Hier drin fühlte er sich zwar wie in einer Streichholzschachtel eingeschlossen, aber wenigstens kehrte Ruhe in ihn ein. Klappernd und ruckelnd kam der Fahrstuhl an. Die zerkratzte Kabine mit den platt getretenen Kaugummis, angetrockneten Rotz-Kleksen auf dem Boden und den Brandstellen von den Zigaretten an den Wänden ließ wenig Vertrauen in dieses Technik-Fossil aufkommen. Dennoch betrat er den Lift.
Im sechsten Stock hielt der Fahrstuhl an. Kilian blieb vor einer Tür mit dem Schild HEIDEMANN und dem Fußabtreter WILLKOMMEN stehen und roch Bratkartoffeln, die in die Pfanne gehauen worden waren. Er klingelte. Hinter der Tür ertönten Schritte, die bekannt und gleichzeitig so fremd klangen. Als das Schloss knackte, setzte sein Herz für eine Sekunde aus - was würde ihn gleich erwarten? -, dann sah er Sebastian vor sich.
Sie blickten einander wie Fremde an. Kilian wusste nicht, was er sagen sollte. So vieles hatte sie einst miteinander verbunden, und jetzt klaffte eine Schlucht zwischen ihnen, die kaum zu überwinden war. Obwohl
es nicht einmal ein Jahr zurücklag, als Sebastian aus der Gemeinschaft verbannt worden war, erkannte Kilian seinen ehemaligen Freund und Gefährten kaum wieder. Sein Haar war ergraut, um die Augen und den Mund lagen Fältchen, die sicherlich nicht vom vielen Lachen stammten. Er trug eine fleckige Schürze und umklammerte einen hölzernen Kochlöffel, als wollte er seinem Besucher damit eines überziehen.
»Hi«, sagte Kilian und hob unbeholfen die Hand zum Gruß.
Es dauerte, bis Sebastian begriff, wer vor ihm stand. »Was tust du hier?«, hauchte er erschrocken.
»Einen alten Freund besuchen.«
Sebastian nagte an der Unterlippe, dann trat er zur Seite, obwohl ihm das Misstrauen ins Gesicht geschrieben stand. »Komm rein.«
Als Kilian in den Flur trat, spähte sein Freund ins Treppenhaus, als erwarte er, dass eine Horde von Metamorphen über ihn herfiele. Schließlich dirigierte er Kilian in die Küche.
Ein Fliegennetz schmückte das Fenster, auf dessen Sims eine Azalee vor sich hinwelkte. Auf der Arbeitsplatte und dem Tisch stapelte sich das schmutzige Geschirr. Die Pfanne mit Bratkartoffeln zischte und spritzte Öl auf den Herd. Kilian setzte sich auf einen Hocker. Sebastian blieb unschlüssig stehen, als wäre er Gast in der eigenen Wohnung.
»Wie geht es dir?«, fragte Kilian, ohne passende
Worte zu finden. Und das, obwohl sie sich früher stundenlang über Gott und die Welt unterhalten hatten.
»Ich komme klar«, lautete die Antwort mit unverdeckter Kühle.
Nein, er hätte nicht hierherkommen sollen. Es nützte nichts. Sie würden die ganze Zeit einander nur Banalitäten zuwerfen und sich immer befremdlicher fühlen. Andererseits … Kilian schob einen Stapel Teller in die Mitte des Tisches und stützte sich mit dem Ellbogen ab. Ach, zum Teufel!
»Ich habe Tollwut, Basti. Die Metamorph-Tollwut.«
Sein ehemaliger Freund klappte den Mund auf, doch Kilian fiel ihm ins Wort: »Und ich habe mich verliebt, aber nicht in ein Weibchen unserer Art. Sie ist vielleicht eine Totenküsserin. Ich weiß es nicht genau.«
Sebastian ließ sich auf einen Hocker fallen. »Keine halben Sachen, was?«
»Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Du hast dich wegen deiner Liebe gegen die Königin gestellt.« Ich bewundere dich , wollte er hinzufügen. Und verdamme dich für den Verrat an unserer Gemeinde. An mir.
»Ich wurde verbannt, Kil! Schon vergessen?« Er sprang auf und machte ein paar Schritte durch die enge Küche. »Ich kann dir eins sagen: Kein Weib ist es wert.«
»Was? Du bedauerst deine Entscheidung?«
Sebastian schwieg, und das war Antwort genug.
Kilian rieb sich das Gesicht. Mit einem Mal begriff er, warum er wirklich hier war: Er suchte Zuspruch. Etwas wie ›Go, Kil, go!‹. Eine Bestätigung, dass er in seiner Liebe Glück finden könnte, egal welche Hindernisse vor ihm lagen oder was über seine Liebste gelästert wurde.
Doch Sebastian dachte nicht einmal daran, ihn zu unterstützen. Mit verschränkten Händen stand er da und zeigte mit seinem ganzen Wesen, wie unwillkommen ihm der Besuch war.
»Wo ist denn deine Auserwählte?«, fragte Kilian.
»Auserwählte? Mann,
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