Schattenseelen Roman
die Conrad aus ihrer Wohnung gebracht hatte, in eine Tasche.
Sie lauschte an der Tür. Hoffentlich würde niemand versuchen, sie aufzuhalten, und es ihr noch schwerer machen, als es schon war.
Alles still.
Durch den Türspalt schlüpfte Evelyn in den Flur, dann die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Nach einem kurzen Kampf mit dem Schloss stürzte sie ins Freie, zum Tor, und schließlich hinaus auf die Straße. Ihre Beine trugen sie wie von selbst. Erst als Evelyn die
Villa nicht mehr erblicken konnte, gönnte sie sich eine Verschnaufpause. Wo sollte sie hin? In ihrer Wohnung würden die Nachzehrer sie schnell finden, vielleicht Fragen stellen und versuchen, sie zur Rückkehr zu überreden.
Während sie ziellos die Straße entlanglief, kamen ihr die Gedanken an den Alptraum über Herzhoffs Mord wieder. An ihren Wunsch, den Professor in seinen Hexen-Forschungen aufhalten zu müssen. Ein mulmiges Gefühl schlich sich ein, eine seltsame Ahnung von … Nein! Sie sollte sich vergewissern, dass es ihm gutging. Und bei der Gelegenheit vielleicht mit ihm über Adrián reden. Erst dann konnte sie in Ruhe über ihre eigenen Probleme nachdenken und mit dieser Welt, die sich ihr in den letzten Tagen offenbart hatte, abschließen.
Evelyn steuerte die nächste Bushaltestelle an.
Sie bezahlte den Fahrschein mit dem Geld, das sie vorgestern von Adrián geliehen hatte. Auch danach blieb ihr etwas übrig. Sie ließ die Münzen auf den Sitz neben ihr regnen. Nein, sie durfte nichts behalten, das sie an ihn erinnern würde. Diesen Schmerz könnte sie nicht ertragen.
Endlich erreichte sie das Gebiet, in dem der Professor wohnte. Den Käfig in der Hand und die Tasche, die ihr stets von der Schulter rutschte, unter den Arm geklemmt, schlenderte sie die Straße entlang. Keine Fußgänger, keine Autos - die Gegend wirkte verschlafen … oder ausgestorben. Bloß dieses Gefühl, angestarrt
zu werden - es ließ ihr keine Ruhe. Sie beschleunigte ihre Schritte, drehte sich immer wieder um.
Da sah Evelyn sie. Die Unbekannte, die sie damals an der Bushaltestelle bemerkt hatte und die im Nebel verschwunden war. Die Frau mit der Haut, so dunkel wie Ebenholz, stand an einer Hausecke, spielte mit ihrer Perlenkette und musterte Evelyn. Ob es nur eine Einbildung war? Etwas an dieser Person machte ihr Angst. Evelyn rannte los, und als sie zum wiederholten Male zurückgeschaut hatte, war die Frau verschwunden.
Endlich erreichte sie Herzhoffs Haus. Das Gartentor war nur angelehnt, und eines der Fenster stand weit offen. Eine halb abgerissene Gardine hing heraus und bewegte sich im Wind.
Evelyn stellte die Tasche und den Käfig ab und ging zur Tür. Unter dem Vordach hatte die Kreuzspinne ihr Netz wieder gesponnen, und nun blieben die feinen Fäden Evelyn abermals im Gesicht kleben, als sie hindurchlief. Sie beachtete es nicht, drückte auf die Klingel und wartete. Als auch nach weiteren Versuchen sich niemand gemeldet hatte, trat sie zum geöffneten Fenster.
Über den Sims lugte sie in die Küche. »Professor Herzhoff? Sind Sie da?«
Keine Antwort. Er würde doch nicht weggehen und das Fenster offen stehen lassen? Ihre Anspannung verstärkte sich. Evelyn stemmte sich am Sims ab, rutschte
über die Kante und glitt lautlos auf den Boden. Bereits im Flur bemerkte sie es - den Geruch nach Blut, den sie zu gut von ihrer Arbeit im Krankenhaus kannte. Auf einmal musste sie sich zwingen, weiterzugehen. Noch ein paar Schritte, dann verharrte sie auf der Schwelle zum Wohnzimmer.
Evelyn hatte schon vieles gesehen, aber was sich hier ihrem Blick eröffnete, übertraf ihre Vorstellungskraft. Fast glaubte sie, an das Set eines Splatter-Filmes gelangt zu sein.
Das Zimmer sah so verwüstet aus, als hätte hier ein Tornado getobt. Regale waren von den Wänden gerissen worden, Bücher und zerfetzte Blätter lagen verstreut, Glassplitter, umgekippte und teilweise zu Kleinholz zerschlagene Möbel - und überall Blut. So viel Blut! Die Wände waren vollgespritzt, der Teppich nass getränkt. Der üble Geruch drohte Evelyn zu ersticken.
Den Professor selbst sah sie nicht sofort. Er lag in einer Ecke, oder besser gesagt das, was von ihm übrig geblieben war. Sein Leib war zerfetzt worden wie von einem wilden Tier: Gelenke unnatürlich verdreht, die Bauchhöhle aufgerissen und das Fleisch teilweise von den Knochen abgerupft. Auf seiner Brust saß eine wildfarbene Katze und naschte an dem Fleisch seiner Wangen. Als das Tier Evelyn bemerkte, fauchte es und schoss an
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