Schattenseelen Roman
schwenkte nach links, und sie wurde gegen die Wand gedrückt. Autsch! Etwas ritzte in ihren Daumen. Vorsichtig ertastete sie eine scharfe Metallkante. Vielleicht würde es ihr gelingen, die Fessel daran auszufransen? Sie setzte den Strick an die Kante und bewegte ihre Hände vor und zurück.
Vor Anstrengung trat ihr der Schweiß auf die Stirn, ihre Unterarme schmerzten, doch der Erfolg blieb aus. Sie ließ sich nicht entmutigen. Wie besessen säbelte sie weiter, um die Fessel aufzulockern und ihre Hände zu befreien. Die Kante schnitt ihre Haut auf, eigenes Blut verklebte ihre Finger, und der Strick bohrte sich nur noch tiefer in ihre Handgelenke.
Weiter, du schaffst das!, feuerte sie sich an. Das Seil würde bestimmt gleich reißen.
Das Auto verlangsamte seine Fahrt. Evelyn horchte auf. Schon am Ziel? Das würde ihr Ende bedeuten.
Seltsam - sollte sie wirklich eine Nachzehrerin sein, müsste dieser Umstand nicht sonderlich beunruhigend auf sie wirken. Aber ans Sterben hatte sie sich noch nicht gewöhnt und allein der Gedanke daran, in einem engen Sarg aufzuwachen, ließ den Lebenswillen in ihr sprudeln.
Das Auto hatte offenbar die asphaltierte Straße verlassen
und holperte nun einen Weg entlang. Dabei klapperte es wie eine Blechdose, die ein Kind vor sich hinkickt und die jeden Augenblick auseinanderzufallen drohte. In einem Schlagloch wurde Evelyn auf den Bauch geschleudert. Sie prallte mit dem Gesicht gegen den Boden. Sogleich flammten Schmerzen in ihrem Kopf auf. Sie stöhnte durch die zusammengepressten Lippen und spürte Blut aus ihrer Nase fließen.
Evelyn tastete nach der Kante. Verdammt, wo war sie? Sie wand sich von einer Seite auf die andere, um wieder an die Stelle zu gelangen, die ihr eine mögliche Rettung versprach. Aus dem Dunkel des Wagens ertönte ein Grollen. Lauerte da ein Tier? Womöglich jenes, das Hermann in Stücke gerissen hatte!
Sie verharrte für einen Augenblick, um dann wieder auf den Leinsäcken hin und her zu rutschen. Die Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht. Etwas juckte sie am Ohr, aber die Stelle konnte sie nicht kratzen.
Da! Endlich ertastete sie die Kante und setzte ihre Arbeit fort. Die Minuten verstrichen. Mit jedem Ruck des Wagens verlor Evelyn die Stelle und musste sie aufs Neue suchen. Doch sie gab nicht auf. Von der verrenkten Haltung, in der sie lag, taten ihr die Muskeln weh, die Wunden an ihren Händen brannten. Auf all das achtete sie nicht. Das Einzige, was zählte, war das Überleben. Sie musste es schaffen!
Der Wagen blieb stehen. Oh nein! Gleich würde ihr Entführer kommen … Sie säbelte weiter, noch verbissener als zuvor. Endlich riss der Strick. Blitzschnell
richtete sie sich auf und machte sich an dem Knoten um ihre Fußgelenke zu schaffen. Ihre tauben Finger gehorchten ihr nicht, glitschig vor Blut rutschten sie immer wieder ab.
Das Auto wackelte, eine Tür schlug zu. Jemand war ausgestiegen! Evelyn zerrte und rüttelte an dem Knoten. Verdammt! Sie hätte schreien mögen vor Verzweiflung. Dabei war es ihr fast gelungen, die Fessel zu entwirren.
Schritte kamen näher und verharrten vor der Tür zum Laderaum. Der Entführer wartete offenbar - doch worauf bloß? Evelyn sammelte ihre letzten Kräfte, und es gelang ihr tatsächlich, den Knoten zu lösen. Schwer atmend fiel sie auf den Rücken. Und jetzt? Sie war zu schwach, um sich mit einem Mörder anzulegen. Er würde sie überwältigen und ihre Bemühungen zunichte machen. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass er sie nicht gleich abknallen würde, dass sie in einem Moment der Unachtsamkeit eine Gelegenheit bekam zu fliehen.
Evelyn wickelte den Strick so um ihre Gelenke, dass sie sich jederzeit befreien konnte, und legte sich hin, als die Tür zur Seite geschoben wurde. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, um dann noch schneller zu pochen. Jemand beugte sich zu ihr herunter und verdeckte die Sonne. Evelyn rührte sich nicht, tat so, als wäre sie benommen. Starke Arme hoben sie aus dem Auto und legten sie im weichen Gras ab. Blätter rauschten weit über ihr.
»Bist du okay?« Der Mann tätschelte ihre Wangen. Ein nasses Tuch fuhr ihr über die Stirn, berührte die Beule an ihrem Kopf und ließ sie vor Schmerz ächzen. Länger die Ohnmacht vorzugaukeln, gelang ihr nicht. Sie schlug die Augen auf.
Der Mann vor ihr war … riesig. Wenn sie noch vor wenigen Tagen Bernulf als stattlich, groß und anziehend angesehen hatte, dann stellte dieses Exemplar hier alle und jeden in den Schatten. Sogar Adrián,
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