Schattenseelen Roman
verebbte der Anfall. Eine Taubheit der Sinne kehrte ein; Evelyn kauerte in der Dusche, bis sie die Kraft fand, wieder auf die Beine zu kommen. Wie im Schlaf trocknete sie sich ab und zog ihre Sachen an.
Sie wandelte den Flur entlang, zurück zu dem Zimmer, das Maria ihr gestern zugewiesen hatte. Dort wollte sie sich einschließen und im Bett ausharren, bis sie alles verdrängt hatte und weiter funktionieren konnte.
Doch da sah sie ihn.
Adrián.
»Schon wach, mi vida ?« Immer noch der Adrián mit dem lebendigen Lächeln und dem offenen Gesicht, auf dem jede seiner Gefühlsregungen abzulesen war.
Wie versteinert beobachtete Evelyn, wie er sich ihr näherte.
Nein, geh fort - erlaube mir nicht, dir wehzutun!, wollte sie aufschreien, doch ihre Lippen bewegten sich nicht.
Jetzt stand er dicht vor ihr. So nah, dass sie ihn mit jeder Zelle ihrer Haut spürte. Und dennoch hatte sie sich noch nie jemandem so fern gefühlt.
In ihrer Erinnerung stieg der Geruch des Liebesaktes empor, und die Übelkeit kehrte zurück. Ihr wurde
schwindelig. Sie hielt sich so krampfhaft am Türrahmen fest, dass die Sehnen ihrer Hand hervortraten.
Bleib weg von mir , bewegte sie die Lippen, doch kein Ton entwich ihrer Kehle. Sie schnappte nach Luft und presste hervor wie unter Wehen: »Bleib! Mir! Fern!«
»Was ist los?« Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern. »Geht es dir nicht gut?«
»Nimm deine Pfoten von mir!«, brüllte sie und stieß ihn von sich.
Er hob abwehrend die Hände und wich ein Stück zurück. »Schon gut, schon gut. Was ist passiert?«
Alles brodelte in ihr, die Hirngespinste bäumten sich auf und fauchten: »Tu nicht so scheinheilig! Du hast gekriegt, was du wolltest.« Sie hörte ihre eigene, hohe und verzerrte Stimme, doch es war ihr, als sehe sie all dem nur zu, viel zu machtlos, um etwas dagegen zu unternehmen.
»Evy …«, fing er irritiert an, aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Ihr seid alle gleich!«, spuckte sie die Worte wie Gift heraus. »Was willst du jetzt noch von mir? War es dir nicht genug? Soll ich noch einmal die Beine für dich breit machen? Ist es das, was du willst?«
Evelyn sah in sein Gesicht, das sich zu einer Maske verhärtete, und dachte an den Traum, den sie in der ersten Nacht in der Villa gehabt hatte:
Vertraust du mir?
Ja.
Dein Fehler.
Sein Herz in ihrer Hand, das sie zum Leben erweckt hatte, um es herauszureißen. Die Chimären gierten nach Blut. Und sie würden es bekommen.
Adrián hob die Arme und trat wieder auf sie zu, womöglich in einem letzten Versuch, sie zu beruhigen. Er wollte sie nicht aufgeben, nicht so - diese Erkenntnis erfüllte sie mit Wärme. Aber nicht genug, um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Hart schlug sie seine Hände zur Seite, rauschte an ihm vorbei in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Mit fahrigen Fingern schloss sie ab und lehnte sich dagegen.
Sein Klopfen erschütterte das Holz und ging in jede Faser ihres Körpers über. »Evy, habe ich etwas falsch gemacht? Rede mit mir. Bitte!«
Sie schloss die Augen. Tränen liefen ihre Wangen herab. »Du hast mich ausgenutzt«, kreischten ihre inneren Peiniger. »Verschwinde! Ich hasse dich.«
Schwäche fuhr in ihre Beine, und sie glitt zu Boden. Fang mich auf, denn ich falle …
Doch Adrián hörte ihr Flehen nicht.
»Verstehe«, kam es tonlos von der anderen Seite der Tür. Danach herrschte Stille.
Erst nach einer Weile konnte Evelyn sich zusammenreißen und aufstehen. Die Gespenster schliefen, vollauf befriedigt, ein Unheil angerichtet zu haben.
Sie spürte ein Ziehen in der Magengrube, als sie an Adriáns zärtlichen Blick von gestern Abend dachte. An
das Lächeln, das seine kantigen Züge weich zeichnete. Nie mehr würde er sie so ansehen.
»Na, zufrieden?«, fragte sie in sich hinein und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Was soll ich jetzt bloß tun?«
Ihr erster Gedanke war, Adrián aufzusuchen, ihm alles zu erklären. Vielleicht würde er es verstehen und ihr verzeihen. Vielleicht wurde alles wieder gut.
Und dann?
Was, wenn ihre Dämonen erneut erwachten? Wie oft würde sie ihn dann zerbrechen? Wie viel Schmerz könnte er ertragen? Ihm das anzutun, war sie nicht imstande. Dafür liebte sie ihn zu sehr.
Sei frei Adrián, frei von mir. Ich muss gehen, um niemandem mehr wehzutun.
Ja, das wäre das Beste für alle. Hastig schob Evelyn Fridolin in den Transportkäfig, versteckte das Khukuri unter ihrem langen Cardigan und stopfte die wenigen Sachen,
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