Schattenseelen Roman
musste sie zugeben.
Das T-Shirt spannte um seine breiten Schultern, eine an den Knien ausgefranste Jeans schmiegte sich an die deutlich schmaleren Hüften. Das Haar in der Trendfarbe straßenköterblond hing ihm in die Augen, was ihn wild aussehen ließ; und obwohl er einen Dreitagebart trug, machte er keinen ungepflegten Eindruck.
»Tut mir leid für alles«, sagte er rau, und eine deutliche Erleichterung schwang in seinem Ton mit. Hatte er sich Sorgen um sie gemacht? Und das, nachdem er sie niedergeschlagen hatte? Das waren nicht gerade die ersten Worte eines Entführers, die sie erwartet hätte.
»Ich wollte dir nicht wehtun. Aber ich musste dich fortbringen, und freiwillig wärst du sicherlich nicht mit mir gegangen.« Seine grauen Augen hinter der Brille im Harry-Potter-Look - die genauso fehl am Platz wirkte wie Maria in ihrer Märchenvilla - musterten sie mit demselben Argwohn, mit dem Evelyn ihn
studierte. »Wer bist du? Wieso … wieso hast du so einen Einfluss auf mich?«
Tja, wer war sie? In letzter Zeit bekam Evelyn diese Frage erstaunlich oft gestellt. Und wenn sie früher eine klare Antwort darauf gewusst hatte, so verweigerte sie jetzt lieber die Aussage und suchte unauffällig nach irgendeiner Waffe, mit der sie sich gegen diesen Brocken von einem Mann verteidigen konnte. In der Nähe entdeckte sie einen Ast, mit Moos und Holzpilzen bewachsen. Zugegeben, ein Prellbock würde bei diesem Exemplar mehr Wirkung zeigen, aber die Situation erlaubte ihr nicht, wählerisch zu sein. Allerdings lag der Ast zu weit weg, um mit einem Griff an ihn zu gelangen.
»Wer bist du?«, wiederholte er mit Nachdruck. »Gehörst du zu denen ?«
Sie schwieg.
»Antworte mir, verdammt!«, brüllte er. War es etwa Verzweiflung, die er überdecken wollte? Irgendetwas stimmte nicht. Es kam ihr so vor, als wüsste er selbst nicht so genau, was er mit ihr anfangen sollte.
»Ich bin …« Sie musste sich räuspern, um den Frosch aus dem Hals zu bekommen. »Ich bin Krankenschwester.« Gleichzeitig schaute sie ihm in die Augen und hoffte, er würde nicht den Mut aufbringen, sie anzugreifen, wenn sie ihn so offen ansah. Er wirkte jedenfalls nicht wie ein abgebrühter Serienkiller. Sie spürte förmlich, wie etwas an ihm nagte. Gewissen? Ihre einzige Chance lag darin, es auszunutzen.
»Du warst mit den Totenküssern zusammen, das weiß ich.« Er wischte sich mit dem Lappen über die Stirn, mit dem er zuvor Evelyns Gesicht betupft hatte, erstarrte für einen Augenblick und roch an dem Stofffetzen, bevor er die Hand sinken ließ. Seine Augen waren gerötet, die Haut blass. Viel Schlaf und Ruhe hatte er in der letzten Zeit wohl nicht genossen.
»Ich wurde entführt.« Sie sprach so ruhig wie möglich, um ihn nicht in Rage zu bringen.
»Warum? Was wollten die Kreaturen von dir?«
»Ein Heftpflaster wohl nicht.«
»Spiel nicht mit mir!« Plötzlich packte er sie und schüttelte sie an den Schultern durch. »Was wollten die von dir? Sag es mir!«
Dutzende von Hämmern trommelten auf ihre Schädeldecke ein. Evelyn biss sich auf die Unterlippe.
»Ich weiß es nicht«, stöhnte sie. Vor Schmerzen verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Mit allen Sinnen kämpfte sie gegen die Ohnmacht an. Nein, sie durfte es sich nicht erlauben, das Bewusstsein zu verlieren. Nicht jetzt!
Der Mann ließ von ihr ab. »Entschuldige«, murmelte er. »Es ist … Ich weiß nicht … ich …« Er vergrub beide Hände in seinem Haar. »Und dann haben sie dich freigelassen?«
»Ich bin geflohen.« Das war nicht ganz gelogen, auch wenn sie inzwischen bedauerte, die Villa verlassen zu haben. Dort war sie in Sicherheit gewesen und
wäre niemals in die Hände dieses … ja, was denn? … dieses Verrückten gelangt.
Aus dem Transporter sprang ein wolfsähnlicher Hund. Sein Fell war mit angetrocknetem Blut verschmiert. Evelyn keuchte. Den hatte sie doch in der Gasse gesehen! Ihre Unruhe drohte in blanke Angst umzuschlagen. Würde diese Bestie sie zerfleischen, wie damals Adrián? Sie dachte an die Wildheit, mit der sich das Tier auf sein Opfer gestürzt hatte. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Dieser Kerl vor ihr - das war Herzhoffs Mörder. Sein Hund hatte den Professor umgebracht, denn wer sonst könnte eine Leiche so zerfetzen?
Der Entführer blickte zu seinem vierbeinigen Komplizen, wodurch er Evelyn den Rücken zuwandte. »Sitz, Akash!«
Evelyn schüttelte die Fesseln ab und sprang auf die Beine. Mit einem Satz gelangte sie an den Ast, holte aus und
Weitere Kostenlose Bücher