Schattenseelen Roman
ihr vorbei in den Flur.
Evelyn schloss die Augen, und sogleich fielen die Erinnerungen an den Alptraum über sie her. Eine Vision.
Sie hatte tatsächlich die Vision seines Todes gesehen!
Sie stürzte zum Ausgang. Sie brauchte frische Luft. Sie brauchte …
Als sie die Tür aufriss, prallte sie mit jemandem zusammen. Noch konnte sie kaum einen Gedanken fassen, als ein Schlag ihren Kopf traf.
Dann fiel die Dunkelheit über sie her.
16. Kapitel
S ie lief durch Glas und stürzte, und es gab niemanden, der sie aufgefangen hätte. Splitter prasselten auf ihren Rücken und schnitten in die Haut, doch den peitschenden Schmerz merkte sie kaum.
Evelyn stand auf. Drehte sich um. Ihr Körper bewegte sich wie ferngesteuert, als sie auf den schwarzen Nebel zuschritt. Die Schwaden krochen ihr entgegen, wanden sich wie eine verendende Schlange auf dem Boden.
Sie betrachtete den Nebel. Sie hatte keine Angst vor ihm, im Gegenteil - sie begrüßte ihn wie einen alten Freund. Die Schwaden leckten an ihren gespreizten Fingern, leicht wie der Hauch einer Feder und eisig wie das arktische Meer. Die Kälte strömte unter ihre Haut, stieg auf und erfasste ihr Herz.
Erhobenen Hauptes trat sie in ihr Reich.
Wir sind hier, um dir zu dienen , flüsterten Schattenwesen von überallher. Mal stiegen Klagen auf, dann wieder ertönten Ausrufe, doch alle waren sie von tiefster Ehrfurcht gezeichnet. Denn du bist die Schwarze. Dein Körper ist der Himmel der Nacht …
Tausende von Fingern fuhren über ihre Brüste, strichen
den Bauch entlang zu den Oberschenkeln. Sanft, als wehte eine Brise über ihre Haut. Sie genoss es, wie das Blut in ihren Adern gefror und das Herz aufhörte zu schlagen. Ein seltsames Gefühl erfasste sie - das Gefühl, nicht mehr zu existieren.
Deine Augen sind das Licht der Sterne …
Sie schloss die Lider, und als sie wieder aufblickte, wurde etwas Neues in ihrer irdischen Hülle geboren. Eine Königin des Universums. Eine Herrscherin über die Zeit.
Die Schöpfung ist dein Traum , tönte das Echo der Tausend Stimmen, dein Traum …
Sie schritt aus dem Nebel heraus und träumte ihren Traum: Von einem Häuschen im Grünen mit einer verrosteten Hollywoodschaukel; von einer wildfarbenen Hauskatze, die sich auf einem Pfosten zwischen zwei Grundstücken putzte; von der Bewegung der Gardine des Hauses von nebenan.
Jemand beobachtete sie …
Das Bewusstsein kehrte schleppend zu ihr zurück und brachte quälende Kopfschmerzen und Wellen von Übelkeit mit sich. Evelyn stöhnte. Sie wusste nicht, was real war und was nicht. Die Wirklichkeit vermischte sich mit ihren Träumen und den Bruchstücken ihrer Vision. Wurde sie verrückt? Konnte sie ihren Gedanken und Empfindungen überhaupt trauen?
Ihr Kopf dröhnte, und jede Bewegung bescherte ihr neue Qualen. Wo war sie überhaupt? Evelyn versuchte
sich zu bewegen. Es ging nicht. Die Hände waren ihr hinter dem Rücken gefesselt worden, die Füße in Knöchelhöhe zusammengebunden. Das Brummen des Motors und das Rauschen der Reifen auf dem Asphalt drangen zu ihr durch. Sie lag in einem Auto.
Mit den Fingern tastete sie um sich, soweit es ihre Fessel erlaubte. Grobes Material - Leinensäcke oder etwas Ähnliches - lag unter ihr auf dem kalten Metall. Evelyn rief ihre letzten Erinnerungen wach. Sie war aus dem Haus des Professors gerannt. Jemand hatte direkt vor der Tür gestanden. Danach - ein Fall ins endlose Nichts.
Oder war all das nur ein Traum gewesen?
Die Angst in ihr schwoll an. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien und das bisschen Verstand zu bewahren, das ihr noch blieb. Tief durchatmen - nachdenken!
Einige Sekunden lang verharrte sie bewegungslos, bis ihre Gedanken nicht mehr umherrasten und ihr Verstand zögerlich zu arbeiten begann. Sie wurde entführt - mal wieder -, so viel stand fest. Von wem und warum? Die Antwort drängte sich ihr wie von selbst auf: von dem Mörder. Oder der Mörderin? Es fiel ihr leichter, dabei an einen Mann zu denken. Vielleicht war er am Tatort geblieben, vielleicht war er zurückgekehrt und hatte Angst bekommen, sie habe ihn gesehen. Womöglich wusste er sogar von der Vision und befürchtete, sie könnte ihn dadurch identifizieren.
Da sie keine Augenbinde trug, bedeutete dies hier
vermutlich eine Reise ohne Wiederkehr. Aber solange sie lebte, bestand eine Chance auf Rettung. Die würde sie nicht ungenutzt verstreichen lassen und auf keinen Fall aufgeben! Evelyn Behrens würde bis zuletzt kämpfen.
Der Wagen
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