Schattenseelen Roman
schlug dem Mann gegen den Nacken. Das morsche Holz brach entzwei, doch die Wucht des Schlages ließ den Kerl über den Hund stolpern und ins Gras fallen. Evelyn schleuderte das Aststück nach ihm und stürmte in den Wald.
Ohne nachzudenken rannte sie durch die Büsche und schlängelte sich zwischen den Bäumen durch. Der Hund würde sie aufspüren. Sie brauchte dringend einen Fluss oder einen Bach, damit das Tier ihre Fährte verlor! Sie lief weiter, ohne zurückzuschauen. Wenn sie sich umdrehte, würde der Anblick der verfolgenden
Bestie sie auf der Stelle lähmen. Ihr rasselnder Atem, das Knacken der Zweige unter ihren Füßen, das Rascheln der Blätter und des Grases überdeckten alle anderen Geräusche. Sie konnte sicherlich keinen großen Vorsprung gewinnen. Vielleicht spielte der Entführer mit ihr, wollte die Jagd in allen Zügen auskosten?
Nein, nicht daran denken!
Sie war eine lausige Läuferin. Seitenstiche zwangen sie, einen Gang herunterzuschalten. Ihr fehlte die Luft, als würde sie ersticken, und das Herz drohte förmlich zu platzen, so sehr pumpte es das Blut durch die Adern. Evelyn stolperte über eine Wurzel und polterte einen Hügel hinunter. Gleich darauf sprang sie auf die Beine. Weiter, weiter! Ihre Lunge schmerzte. Evelyn war völlig erschöpft. Ein paar Schritte noch, dann stürzte sie. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich aufzurappeln. Keuchend hielt sie sich an einem Baumstamm fest und starrte angestrengt vor sich hin. Bildete sie es sich ein, oder kroch tatsächlich ein schwarzer Nebel von allen Seiten auf sie zu? Fort, bloß fort von hier!
Sie taumelte auf eine Lichtung. Wohin jetzt? Entfernt hörte sie Autogeräusche. Evelyn steuerte die Richtung an, auch wenn sie kaum hoffte, die Straße noch vor ihrem Entführer zu erreichen.
Über ihr kreiste ein Greifvogel. Sie beneidete ihn für seine Leichtigkeit, mit der er mit den Lüften spielte.
Ihre Beine weigerten sich, sie zu tragen. Schwankend bahnte sie sich den Weg zwischen den Bäumen hindurch. Die Verkehrsgeräusche kamen näher. Sie würde es schaffen! Noch ein wenig, noch ein kleines Stück.
Ein Hecheln. Ein Rascheln.
Erschrocken blickte Evelyn über die Schulter. Wie ein grauer Pfeil schoss der Hund auf sie und riss sie zu Boden.
Adrián, hilf mir!
Der Gedankenstoß quetschte das letzte Quäntchen Kraft aus ihr. Benommen beobachtete sie, wie der Entführer gelassen auf sie zukam, so als ginge er spazieren und genieße die Natur. Er pfiff den Hund zurück und blickte auf sie herab.
»Es hat keinen Sinn, wegzulaufen. Ich werde dich finden. Überall.«
Durch Tränen blickte sie zum Himmel empor, zu dem Vogel, der irgendwo da oben sorglos schwebte, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.
Der Mann half ihr auf die Beine. Nahezu zärtlich hielt er sie in den Armen. »Dir fern zu sein ist unerträglich«, flüsterte er und schnaubte, als ihm die Worte herausgerutscht waren und er sich dessen bewusst wurde.
Da sah Evelyn auch den Vogel, der auf einem Baum saß. Regungslos beobachtete er das Geschehen.
»Ah. Hier seid ihr«, erklang es plötzlich mit unverdecktem Frohsinn, und Evelyn spürte, wie der Entführer
zusammenzuckte. »Warum wurde ich nicht zur Party eingeladen?«
Ein junger Mann stampfte aus dem Geäst auf sie zu. Der Vogel schwang sich vom Ast und flatterte ihm auf die Schulter, was den Mann zu einem schmerzhaften »Autsch!« veranlasste. »Spinnst du, du Mistviech?« Er schubste das Tier herunter, stolperte selbst, das Gesicht - kreidebleich
»Scheiße«, murrte Evelyns Entführer.
»Finn«, korrigierte ihn der Ankömmling. »Willst du mir erklären, was du hier treibst, oder soll ich lieber gleich Linnea rufen? Denn das erwartest du doch von mir, nicht wahr?«
17. Kapitel
W enn er Alkohol vertragen hätte, dann hätte er sich betrunken. Aber die Fähigkeit, menschliche Nahrung aufzunehmen - oder besser gesagt, bei sich zu behalten -, hatte er vor langer Zeit verloren. Genauso wie er auf Zigaretten verzichten musste, was den Entzug in seinem Zustand als wandelnde Leiche nicht gerade erleichtert hatte. Schon kurios - den gesündesten Lebensstil begann er ausgerechnet nach seinem Tod zu führen.
So saß Adrián in dem BMW, den er von Maria ausgeliehen hatte, und starrte auf Hermanns Haus, während Evelyn seine Gedanken beherrschte. Sie verfolgte ihn wie ein Traum, dessen Nachklang einen noch lange nach dem Aufwachen verzaubert, auch wenn er zu vergessen geglaubt hatte, was es hieß zu träumen. Kein Wunder, wenn er
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