Schattenseelen Roman
ich vor der Tierhandlung stand, in der Spiegelung der Vitrine in sein Geschäft zu spähen. Manchmal sah ich ihn, und mein Herz spielte verrückt.«
Tief in Evelyn rührte sich Mitleid, obwohl sie dagegen ankämpfte. Nein, mahnte sie sich, diese Frau will nur eines - dein Vertrauen gewinnen. Es ist ein abgekartetes Spiel, alles vorher berechnet und zusammengestellt. Wer wusste schon, ob das Ganze der Wahrheit entsprach? Sei auf der Hut! Lass dich nicht um den Finger wickeln!
»Erzähl weiter«, forderte sie, darauf bedacht, keine Gefühle durchsickern zu lassen. Kurz wirkte Linnea gekränkt, dann beherrschte sie sich.
»Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich mich getraut habe, wieder mit ihm zu sprechen. Danach besuchte ich ihn jeden Tag. Wir redeten über alles Mögliche, nur nicht über uns. Manchmal redeten wir gar nicht, saßen nur da und sahen einander an, als wüssten wir, dass jeder von uns die eigenen Dämonen hütete.« Sie lachte traurig auf. »Schon bald wollte ich mehr, aber er scheute jedes Mal zurück, als ich ihm näherzukommen versuchte. Er war wie ein wildes, verwundetes Tier, das jeder fremden Hand misstraut. Ich übte Geduld und ließ mich von den Instinkten führen, die mir als Anwärterin blieben. Und meine Geduld wurde belohnt. Etwa ein Jahr danach liebten wir uns auf dem Boden seines Ladens, und dieselben Instinkte sagten mir, dass ich dich an diesem Tag von ihm empfangen habe.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, stieß Evelyn verbittert aus. Ohne es selbst zu bemerken, hatte sie sich auf den Sessel der Frau gegenüber gesetzt und lauschte der Geschichte. Waren es die erwähnten Instinkte, die auch sie zähmten? Zum Glück umklammerte sie noch das Messer hinter dem Rücken. Der Gedanke an die Waffe beruhigte sie.
»Einige Zeit verging. Dann geschah es, an einem dieser Tage«, erzählte Linnea weiter, »an denen meine
Knochen vibrierten. Diesmal so stark, dass ich ruhelos hin und her lief. Bis zum Abend hielt ich es aus, aber es wurde immer schlimmer. Ich glaubte, verrückt zu werden, und zerschlug Sachen vor lauter Frust. Raus, ich musste raus, solange kein Unglück passierte! Ich schlich aus dem Internat und streifte lange durch die dunkle Stadt. Schließlich lief ich zu meinem Geliebten, in der Hoffnung, er würde mir beistehen, vielleicht irgendwie helfen. Er war nicht da, aber in dem Moment, als ich vor dem Zoogeschäft stand, traf es mich wie ein Schlag. Ich sah durch die Augen einer Schlange, beobachtete mich selbst, wie ich erstarrt und mit verdrehten Augäpfeln vor dem Schaufenster verharrte. Als ich wieder zu mir kam, erblickte ich die Schlange in einem der Terrarien. Da wusste ich, sie war mein Seelentier, ich hatte die Verbindung zu ihr hergestellt! Ohne wirklich zu registrieren, was ich tat, zerschlug ich die Vitrine und stahl die Otter. Noch in dieser Nacht floh ich aus Hamburg. Die nächsten Tage vergingen wie in einem nie enden wollenden Alptraum. Immer wieder verschmolz mein Geist mit dem der Schlange, danach fühlte ich mich hundeelend und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Ich aß kaum etwas, streunte herum ohne Ziel und merkte selbst, wie ich langsam, aber sicher irre wurde. Eines Morgens, als ich in einem Wald erwachte, sah ich eine Frau vor mir. Ich erkannte sie nicht sofort: meine Mutter. Sie kniete neben mir, umarmte mich und flüsterte immer wieder: ›Liebes, ich habe mir solche Sorgen
um dich gemacht! Aber jetzt wird alles gut. Du bist bei mir. Ich bringe dich nach Hause.‹« Linneas Lippen bildeten eine schmale Linie, ihr schönes Gesicht war zu einer Maske erstarrt.
»Wie hat dich deine Mutter gefunden?«, wollte Evelyn wissen.
Linnea wischte sich über die Wangen und blinzelte, um die Tränen zu vertreiben. »Sie war eine Königin, und als solche spürte sie, wenn ein neues Mitglied unter ihre Fittiche kam oder ob der Tod jemanden aus ihren Reihen riss. Ganz besonders, wenn es um die Anwärter ihrer Gemeinschaft geht.«
»Und du bist mit ihr zurückgegangen? Nach all dem, was sie dir angetan hatte?«
»Ich hatte keine Wahl, sonst wäre ich verrückt geworden, unfähig, die Verschmelzungen zu steuern. Irgendwann hätte sich mein Geist mit dem der Schlange so sehr vermischt, dass ich nicht mehr hätte unterscheiden können, wo ich war und wo die Schlange. Also ging ich mit ihr, um zu lernen, mit dem Vorsatz, irgendwann zu meinem Geliebten zurückzukehren. Das Verhältnis zu ihm und meine Schwangerschaft verheimlichte ich.
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