Schattenseelen Roman
diesem Hund allein in einem Raum sein. Mit einem aufgebrachten Hund umso weniger.
Sie knipste die Lampe neben ihrer Matratze an, um besser zu sehen. Das Tier fletschte die Zähne und stieß ein tiefes Grollen hervor. Seine Rückenhaare sträubten sich, die Ohren waren nach vorn gerichtet und die Nase in tiefe Falten gelegt. Die Bernstein-Augen starrten sie direkt an. Herausforderung leuchtete darin.
»Sitz«, flüsterte Evelyn. »Sitz, Akash.«
Mit lautem Gebell stürzte sich der Hund auf sie, die weißen Reißzähne blitzten vor ihrem Gesicht auf. Evelyn kreischte, rollte zur Seite und schnellte hoch. Sie wusste nicht, was mit ihr danach geschah, wie sie es zustande bringen konnte, doch sie fand sich plötzlich in der Nähe der Tür, was sie unmöglich mit einem einzigen Sprung hätte erreichen können. Akash prallte gegen eine Wand. Sogleich rappelte er sich auf und schüttelte benommen den Kopf.
»Kilian! Hilf mir!«, schrie Evelyn und stürmte aus dem Zimmer. Sie hörte das Pochen der Pfoten, stolperte in die Stube und knallte die Tür hinter sich zu. Der Hund warf sich gegen das Holz, das unter seinem Ansturm erbebte.
Kilian richtete sich auf dem Sofa auf und rieb sich verschlafen die Augen. »Was ist hier los?«
Evelyn lief zu ihm. »Dein Hund, er ist …«
Die Tür gab nach, und Akash schoss aus dem Schlafzimmer. Kilian sprang vom Sofa und riss Evelyn zur Seite, gerade als der Hund zu einem neuen Angriff hochschnellte. Statt in Evelyn schlugen die Reißzähne in Kilians Arm. Blut tropfte auf den Boden, wurde zu einem Rinnsal. Akash winselte auf. Er duckte sich, legte die Ohren flach und wich zurück. Sein Blick flackerte, schweifte umher, ohne ein Ziel zu erfassen.
»Was war denn das?«, ächzte Kilian, während das Blut weiterhin seinen Arm entlangströmte. Der Hund winselte erneut und drehte den Kopf weg. Seine ganze Haltung zeugte von Unterwürfigkeit. Keine reißende Bestie mehr. Keine Gefahr.
Evelyn schüttelte ihre Starre ab und packte Kilian am Handgelenk. »Zeig her. Wo hast du das Verbandszeug?«
Er antwortete nicht. Irritiert, fassungslos starrte er den Hund an.
»He, hörst du mich?« Sie musste ihm leicht auf die Wange klatschen, damit er sich ihrer Gegenwart bewusst wurde. »Verbandszeug, wo hast du es?«
»Das Bad. Der Medizinschrank.«
Evelyn nickte, führte ihn zur Küchennische und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. Er setzte sich.
»Ich bin gleich wieder da.« Evelyn lief ins Bad. Der Hund folgte ihr nicht, was sie innerlich aufatmen ließ. Sie musste in zwei Hängeschränken wühlen, bis sie alles zusammen hatte, was sie brauchte. Denn natürlich lagen die Sachen überall, doch nur nicht dort, wo sie hingehörten.
Zurück in der Küche angekommen, schleifte Evelyn einen Hocker heran und setzte sich Kilian gegenüber. Sie reinigte die Wunde und begann, einen Druckverband anzulegen. Ab und zu schielte sie zu Akash, der sich in eine Ecke verzogen hatte. »Passiert das öfter?«
Kilian antwortete mit einer Zeitverzögerung: »Was?«
»Dass dein Hund Menschen angreift.«
»Nein. Nie. Eigentlich rastet er nur aus, wenn er die Totenküsser jagt. Manchmal. Nicht immer. Aber vielleicht … vielleicht ist das die Krankheit.«
»Was für eine Krankheit?«
»Die Tollwut.«
Evelyn schnaubte. »Wir müssen sofort in ein Krankenhaus. Wo liegt der Autoschlüssel? Ich fahre dich hin.«
»Nein.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Eine Ahnung von einem Lächeln umspielte seine Lippen. Ein sehr trauriges Lächeln. »Kein Arzt wird mir helfen können. Es ist eine Krankheit, die nur Metamorphe befällt. Früher oder später holt sie jeden, der sich häufig
mit seinem Seelentier verbindet. Mich hat es anscheinend früher erwischt. Linnea meinte, man könne den Verlauf aufhalten, verzögern, aber dem heutigen Vorfall nach ist es anscheinend zu spät.«
Schweigend betrachtete sie sein Profil: die hohe Stirn, die Adlernase und das scharf gezeichnete Kinn.
Kilian zog die Augenbrauen zusammen, bis diese eine Linie bildeten. Die Sorgenfalten hatten sich tief in seine Haut eingegraben. »Ich sterbe, Evelyn. Ich und Akash. Die Tollwut fängt mit Depressionen an, Reizbarkeit, dem Drang nach Abgeschiedenheit. Dann kommen die Anfälle. Sobald ich in einen Blutrausch verfalle, werde ich von purer Lust am Töten gesteuert. Ich kann zwischen Freund und Feind nicht unterscheiden. Jeder, der sich mir nähert, ist in Gefahr. Das, was Akash gerade angerichtet hat, war so ein Anfall.«
»Wenn du
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