Schattenseelen Roman
Meinung bist,
dass ich für alles büßen soll, dann kannst du mich töten. Mit dem Messer, das du hinter deinem Rücken versteckst.«
Evelyn zuckte zusammen. Bestürzt schaute sie auf ihre Hand, mit der sie das Messer umklammerte.
Wut. Verzweiflung. Hilflosigkeit. Sie hielt es nicht mehr aus, es zerfraß und zerriss sie. Vor vielen Jahren hatte sie ihren leiblichen Eltern, die sie wie ein nutzloses Stück Dreck weggeworfen hatten, die Verantwortung für alles Negative zugeschoben. Dabei hatte sie ihr Leben eigenständig zerstört. Mit einem Ausruf rammte sie das Messer tief in die Tischoberfläche. Linnea war nicht einmal zusammengezuckt. Zufriedenheit schlich sich auf ihr Gesicht.
Evelyn kämpfte mit den Tränen. In ihrem Inneren herrschte Chaos. Sie wünschte sich beinahe, das alles niemals erfahren zu haben, um wieder die gewohnte Ruhe - oder besser gesagt: die Leere - zu spüren, die sie ergriff, wenn sie an ihre leiblichen Eltern dachte. Und gleichzeitig war sie dankbar für die Wahrheit.
»Also bin ich ein Metamorph?« Eine schöne Vorstellung. Eine bessere als die von einer Existenz als Untote. Keine Schuldgefühle, keine Morde, um selbst zu überleben. Hatte sie sich nicht gerade das ersehnt?
Kein Adrián.
Egal ob bei den Metamorphen oder in ihrer früheren Menschenwelt - glücklich würde sie nicht werden können.
»Ja«, erwiderte Linnea. »Beziehungsweise: Du bist noch eine Anwärterin.«
»Mit meinen siebenundzwanzig Jahren habe ich noch kein Seelentier.«
»Ich werde dir helfen, es zu finden. Wir schaffen das schon, ich glaube fest daran. Schließlich hat Finn es auch geschafft.«
»Was, wenn ich das gar nicht will?«
Adrián - warum nur hatte sie ihn kennengelernt? Warum musste sie jetzt an ihn denken?
Linnea stand auf und faltete die Hände vor der Brust. »Bitte, gib uns eine Chance. Du wirst sehen, wie schön es ist, dazuzugehören, sich auf die anderen verlassen zu können. Keine Verzweiflung mehr, keine Angst. Wir lieben dich.«
Evelyn mied es, sie anzuschauen. Ist es das, was sie wollte? Geliebt zu werden? Aber sie wurde geliebt. Von vielen Menschen, deren Liebe sie zurückgewiesen hatte. Von Adrián, den sie von sich gestoßen hatte.
»Ich weiß, du bist müde und durcheinander. Schlaf eine Nacht drüber. Morgen wird es dir bessergehen, ganz bestimmt.«
Evelyn löste sich aus der Starre, als sie bemerkte, wie die Frau sich zum Gehen wandte. »Warte. Ich habe noch so viele Fragen!«
Doch Linnea war bereits aus dem Zimmer verschwunden.
Also ein Metamorph.
Sei’s drum.
Damit konnte sie leben.
Verzeih mir, Evy, ich habe dich im Stich gelassen. Adriáns Stimme in ihrem Kopf. Erschrocken schaute Evelyn auf. Hatte er ihre Gedanken mitgelesen? Wusste er, dass sie niemals zu ihm zurückkommen würde?
Dass sie gerade seine Liebe … verraten hatte?
21. Kapitel
E velyn lauschte in die Dunkelheit. Die Kiefern kratzten an den Wänden des Bungalows, und das Geräusch drang in sie ein, als schabten die Äste an ihrem Inneren. Was willst du eigentlich?, schalt sie sich. Du hast die Wahrheit über deine Herkunft erfahren, du bist bei Leuten, die dich in ihren Kreis aufnehmen möchten, ohne Wenn und Aber. Du hast deine Mutter gefunden. Verdammt, du bist die Tochter einer Königin!
Aber glücklich bist du nicht.
In dem karg eingerichteten Zimmer fühlte sie sich wie ein Häftling auf seiner Pritsche. Wenigstens war Kilian noch eingefallen, alles frisch zu beziehen. Trotzdem müffelten das Kissen und die Decke wie drei Tage lang getragene Socken, und auf der harten Matratze, die direkt auf dem Boden lag, glaubte Evelyn, die Entstehung von blauen Flecken in Echtzeit zu erleben. Auch Kilian schien vergeblich auf das Sandmännchen zu warten und wälzte sich auf dem Sofa hin und her. Erst weit nach Mitternacht ertönte aus dem Wohnzimmer ein gleichmäßiges Schnarchen.
Evelyn blinzelte in die Dunkelheit. Was sollte sie tun? Hierbleiben und mehr über diese Metamorphe
erfahren oder fliehen, um ihr geordnetes Leben wieder aufzunehmen und all den Irrsinn hinter sich zu lassen? Schließlich hatte sie auch früher weder den Schutz eines Nachzehrer-Clans noch den einer Metamorph-Gemeinde gebraucht.
Ein Geräusch lenkte sie ab - das leise Klacken der Krallen auf den Holzdielen. Evelyn stemmte sich mit einem Ellbogen ab und schaute zur Tür.
Akash. Sie erkannte nur seine Silhouette, die angespannte Haltung und die starre, aufgerichtete Route. Nicht gut. Unter keinen Umständen wollte sie mit
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