Schattenseelen Roman
Meine Mutter hätte es nicht zugelassen, mich«, Linnea verzog vor Verachtung das Gesicht, »ein so wertvolles Mitglied ihrer Gemeinde, an einen Menschen zu verlieren. Auch einen Bastard, gezeugt von einem Unwürdigen, hätte sie nicht geduldet.«
»So seht ihr also die Menschen? Als Unwürdige?«
»So sah meine Mutter sie.«
»Hast du deswegen auf deinen Liebhaber verzichtet?«
»Oh nein. Ich hätte alles riskiert. Aber ich wusste, meine Mutter würde mich nicht gehen lassen. Eher würde sie ihn töten, damit ich keinen Grund mehr hätte, die Gemeinschaft zu verlassen. Deshalb hielt ich alles geheim. Die Zeit drängte, irgendwann würde es mir unmöglich sein, die Schwangerschaft zu verheimlichen. Auch so musste ich mir immer neue Tricks einfallen lassen, damit sie es nicht witterte. Dann bekam ich meine Gelegenheit. Als meine Mutter einmal ihren Trupp bei einer mehrtägigen Jagd anführte, floh ich. Ich konnte natürlich nicht direkt zu meinem Liebsten gehen, da ich damit rechnete, verfolgt zu werden, und so bemühte ich mich, die Spuren zu verwischen. Meine Mutter war mir dicht auf den Fersen, ich spürte das. Sie war eine ausgezeichnete Jägerin. Ich versteckte mich in Güterzügen, Schiffscontainern, bereiste per Anhalter ganz Deutschland und die Nachbarländer. Ich fror und hungerte, aber mein Ziel ließ ich niemals aus den Augen. Als ich glaubte, meine Verfolgerin abgeschüttelt zu haben, ging ich nach Hamburg. Glücklich, am Ende meiner Reise angelangt zu sein, suchte ich das Geschäft gegenüber dem Zooladen auf …« Sie stockte. »Wo meine Hoffnungen mit einem Schlag zusammenbrachen.«
»Lass mich raten. Er hatte inzwischen eine andere.«
»Er war tot.«
Evelyn schluckte vernehmlich. »Hat deine Mutter doch von ihm erfahren und ihn umgebracht?«
Linnea schien die Frage überhört zu haben. Versunken in ihren Erinnerungen, erzählte sie weiter:
»Er war tot, und ich war jung, hochschwanger und verzweifelt. Ich rannte weg, ohne zu wissen, wohin. Rannte so lange, bis ich am Ende meiner Kräfte an irgendeiner Müllkippe zusammengebrochen bin. Es war spät abends, als die Wehen einsetzten. Es fühlte sich an, als reiße mich etwas von Innen auf. Eine Fehlgeburt? Ich wusste es nicht. Zwölf Stunden unvorstellbarer Qual, dann hielt ich dich in den Armen. Und wusste: Meine Mutter war in der Nähe. Sie durfte dich nicht in die Finger bekommen! Ich alarmierte anonym die Polizei, dass auf dem Recyclinghof ein Baby liegt, und ließ mich von meiner Mutter abführen. Die nächsten Jahre verbrachte ich in der Gemeinde, lernte alles, was es über meinen Zustand als Metamorph zu lernen gab, und betete heimlich, dass es dir gutgehen möge.«
Evelyn starrte gen Boden. »Vielleicht haben deine Gebete doch etwas bewirkt. Ich wurde von sehr lieben Leuten adoptiert.«
Zaghaft streckte Linnea die Hand aus, als wollte sie Evelyn berühren, senkte den Arm jedoch wieder und wandte ihr Gesicht ab. »Das freut mich«, wisperte sie.
»Was ist aus deiner Mutter geworden?«
Einen Moment lang schwieg die Schlangenfrau. »Ich habe sie getötet.« So leicht sagte sie das. So emotionslos.
»Du hast … was?«
Linnea strich ihr Haar links zur Seite, und Evelyn verschlug es den Atem. Statt des Ohres ragte ein krummer, roter Stummel hervor, drei wulstige Narben zeichneten ihre Schläfe und zogen sich über den Hals herab zur Schulter. »Sie war eine gute Jägerin, aber ich bin zu einer besseren geworden.« Linnea ließ ihre Strähnen los, die das Bild des Schreckens verdeckten. »Danach habe ich versucht, dich zu finden, aber alles vergebens. Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, bis ich dich im Krankenhaus traf. Und da wusste ich, dass du es bist. Dein Metamorph-Geruch hat sich nicht verändert.«
»Du wolltest mich umbringen«, sagte Evelyn tonlos und mit weitaus weniger Schneid als noch Minuten zuvor. Ob sie ihr bereits alles vergeben hatte? Nein, natürlich nicht. Aber hassen konnte sie diese Frau ebenso wenig.
»Nein, nein. Ich hätte dir niemals etwas angetan. Ich hatte keine Zeit für Erklärungen, der Totenküsser war in der Nähe, und ich musste dich mitnehmen. Leider ist mir die Kreatur zuvorgekommen.«
»Also, in der normalen Menschenwelt sind Entführungen eher selten, wenn man bloß mit jemandem reden will.«
»Ich weiß, wie sich das alles anhört, ich habe immer versucht, es geheim zu halten, sogar nachdem ich dich gefunden hatte. Und es tut mir unendlich leid, was ich dir angetan habe. Wenn du der
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