Schattenseelen Roman
Blick registrierte
Kilian. Seine rauen Finger fuhren über ihre Nase, die Lippen und das Kinn. Er merkte nicht, dass sie wach war. Auf seinem Gesicht lag ein verträumter, glücklicher Ausdruck. Da spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund, die leicht salzig schmeckten.
Nein! Das durfte sie nicht zulassen. Tu ihm weh, stoße ihn von dir! Lieber jetzt als später. Denn das war immer noch besser als das, was sie Adrián angetan hatte.
Sie ohrfeigte ihn. »Was fällt dir ein?«
Kilian presste eine Hand auf seine Wange. »Warum?« In seinem Ton schwang eine Anklage mit. »Wir sind füreinander bestimmt. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, du warst so … Ich konnte mich nicht beherrschen.«
»Wir sind nicht füreinander bestimmt«, schleuderte sie ihm entgegen. »Und werden es nie sein. Wenn du das noch einmal tust, wirst du es bedauern, mir mein Khukuri zurückgegeben zu haben.«
Muskeln spielten an seinen Kiefern, als zermalmte er seinen Groll. »So hältst du es also? Zuerst die Männer um den Verstand bringen und sie dann abweisen? Darf ich erfahren, welche Fertigkeiten diejenigen vorweisen müssen, die dann doch in deinem Bett landen?«
»Bitte?«, schnaubte sie.
Seine grauen Augen sprühten Zornesfunken. »Ich war in deinem Dorf und habe mit deiner Tante gesprochen!«
Nacht. Feuchter Waldboden. Kalt. Sie begann zu zittern, ohne es unterdrücken zu können.
»Dann weißt du wohl alles über mich. Gratuliere«, presste sie durch die zusammengebissenen Zähne hervor, drehte sich um und floh. Floh von ihren Erinnerungen, vor sich selbst. Hinaus auf den Hof, dann querfeldein in den Wald. Tannennadeln piekten in ihre Fußsohlen, die Wurzeln zerkratzten ihre Haut. Doch ihre Beine trugen sie weiter.
Fort, fort von hier!
Sie irrte zwischen den Bäumen umher. Die Äste zerrten an ihrem T-Shirt und den Haaren. Die kühle Luft drang bis zu den Knochen und schnitt in ihre Lunge. Über einer Wurzel stolperte sie und fiel hin.
Wald. Feuchter Boden. Nacht.
Evelyn krallte die Hände in die Grasbüschel. Sie keuchte, rang nach Luft, erstickte beinahe aus Angst vor den Bildern, die ihr Gehirn zu übermannen drohten.
Doch die Erinnerungen blieben zurück in ihren Abgründen. Nicht das runde, verschwitzte Gesicht sah sie vor sich, das ihr all die Jahre Alpträume bereitet hatte, sondern Adrián.
Ich halte dich fest , sagte er. Du wirst nicht fallen. Mi vida . Er vertrieb die Dämonen. Seine Umarmung, auch wenn Evelyn sie bloß in ihrem Geist durchlebte, schenkte Wärme und Geborgenheit.
»Mein Drachentöter«, flüsterte sie. Sie wollte ihn berühren, aber ihre Finger strichen bloß durch die Luft.
Neben ihr raschelte etwas. In der Dunkelheit erahnte sie eine Silhouette. Nicht Adrián. Kilian.
»Es tut mir so furchtbar leid«, hauchte er und fiel vor ihr auf die Knie. »Bitte verzeih mir.«
Sie blinzelte in das nächtliche Firmament. Kilians Duft berauschte sie, doch nicht ihn wollte sie bei sich wissen. Was hätte sie nicht alles gegeben, um bei Adrián zu sein, sich an ihn zu schmiegen und seine Nähe zu spüren.
Kilian schien nicht zu merken, was in ihr vorging. »Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Bloß: Ich habe dich so lange gesucht. Du weißt nicht, was es heißt, endlich eine Partnerin zu finden, mit der man das ganze Leben verbringen würde. Und dann bist du da, bei mir, um mich im nächsten Augenblick von dir zu stoßen.« Er krümmte den Rücken. »Es ist alles neu für dich. Ich sollte dir mehr Zeit geben.«
Nein, dachte sie. Keine Zeit der Welt würde mich dazu bringen, dich zu lieben. Kein Metamorph-Duft würde Adrián aus meinem Herzen vertreiben. Ich gehöre ihm. Und wenn ich nicht bei ihm sein kann, dann bei keinem.
»Es ist nur so«, redete er weiter, »als deine Tante all diese Dinge über dich erzählte … ich wusste einfach nicht, was ich glauben sollte.«
»Und wem glaubst du jetzt?« Hatte sie es gesagt? Oder waren es die Bäume, die raschelten und ihr Wispern in die Welt trugen?
»Nicht wem. An was. Ich glaube an dich. Das ist alles.«
»Schön für dich.« Evelyn stand auf und wollte zurück zum Haus gehen, doch Kilian - immer noch auf den Knien - stellte sich ihr in den Weg.
»Warte. Willst du mir nicht erzählen, was damals wirklich geschah?« Er zog sie zu sich herunter und zwang sie zurück auf den Boden.
»Nein.«
»Bitte! Ich will dich kennenlernen. Ich will wissen, wer du wirklich bist.«
All diese Jahre hatte sie das Geheimnis gehütet. Sobald
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