Schattenseelen Roman
jetzt denkst, ich werde tatenlos zusehen, wie du …«
»… wie ich irgendwann auf den Gedanken komme, dir die Kehle herauszureißen? Finn ist in der Nähe, um dich zu beschützen, er übernachtet im Schuppen. Sollte ich einen Anfall bekommen, wird er mich mit einem Betäubungsgewehr aufhalten.«
Sie verdrehte die Augen. »Na, hoffentlich ist er schneller zur Stelle, als du mich fressen kannst. Aber was ich eigentlich sagen wollte …«
Auch diesmal ließ Kilian sie nicht ausreden.
»Ja, du kannst dich nicht nur auf ihn verlassen.« Er stand auf, ging aus dem Raum, um einen Augenblick
später zurückzukehren. »Deshalb ist es besser, wenn du das hier zurückbekommst«, sagte er und legte das Khukuri vor Evelyn auf den Tisch. Ihre Waffe! Natürlich, sie hatte sie bei Herzhoff unter dem Cardigan getragen.
»Du gibt es mir? Einfach so?«
»Ich vertraue dir. Außerdem bin ich dir vermutlich auch dann überlegen, wenn du dein Messer hast.«
»Hochmut kommt vor dem Fall. Ich kann kratzen und beißen, schon gewusst?«
»Es ist nicht lustig, Evelyn. Die Situation ist sehr ernst.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Du gehst also nicht mit mir zum Arzt?«
»Nein.«
»Du bist ein Sturkopf.«
»Ich weiß.« Er lächelte, und sie musste sein Lächeln einfach erwidern. Noch intensiver nahm sie seinen Geruch wahr. Er schien allgegenwärtig, schwebte im Raum, kitzelte ihre Nase und klebte buchstäblich an ihr.
Sie mochte Kilian. Wie sie Bernulf gemocht hatte. Und was sie ihm genauso wenig wie dem verstorbenen Doktor eingestehen würde.
»Du bist so schön, wenn du lächelst.«
Kilians Gesicht war ihr so nah, dass ihr Herz stolperte, um dann höher zu schlagen. Sein Duft betörte sie, aber die Träume, die er in ihr erweckte, lagen ihr schwer im Magen. Es fühlte sich falsch an.
Evelyn schob den Hocker zurück und stand auf. »Ich mache uns einen Tee, okay?«
Sie musste sich mit irgendetwas beschäftigen, um nicht gänzlich verrückt zu werden. So hantierte sie mit einem verbeulten Aluminiumkocher, suchte nach Tee und Tassen, solange die Gasflamme das Wasser erwärmte.
»Was glaubst du, welches Seelentier ich habe?«, fragte sie so beiläufig wie bei einem Smalltalk.
»Schwer zu sagen. Hm.« Er rieb sich das Nasenbein. »Wie lange ist das Kaninchen bei dir, nach dem du mich im Auto gefragt hast?«
»Fridolin? Er ist schon zwölf. Ich habe ihn vor ein paar Jahren aus einem Tierheim geholt.« Auf einmal begriff sie, worauf Kilian hinauswollte. »Du denkst doch nicht etwa …« Sie kicherte. »Nein, nein. Mein Seelentier ist ein Löwe oder ein Panther. Irgendetwas in der Art.«
»Wir sind nicht bei Wünsch-dir-was. Ich fürchte, das kann man sich nicht aussuchen.«
Sie zog eine Schnute. »Na toll. Alle haben Wolfshunde und Schlangen, und ich - ein Kampfkaninchen? Monty Python lässt grüßen. Ich sehe schon, wie sich meine Feinde vor Angst in die Hose machen.«
»Mein Freund hat …« Eine Spur von Traurigkeit legte sich auf sein Gesicht. »Ich hatte mal einen Freund, dessen Seelentier eine Kuh war.«
»Wie baut man die Verbindung zum Seelentier auf? Kann man irgendwie prüfen, ob es wirklich Frido ist?«
»Versuche, dich auf ihn zu konzentrieren. Es ist, als wolltest du ihn zu dir rufen. Und manchmal, ja manchmal rufen die Seelentiere selbst ihr Herrchen oder Frauchen.«
»Ihn rufen? Okay. Friiiiiiiidoooooooo.« Sie kicherte erneut los.
Er riss die Hände in die Höhe und warf sich gegen die Stuhllehne. »Du nimmst mich nicht ernst! Ich gebe auf.«
Diese einfache Geste versetzte ihr einen Stich. Adrián. Warum musste sie schon wieder an ihn denken? Warum ließ er sie nicht los? Vor ihrem inneren Auge schälte sich sein Gesicht heraus, offen und glücklich, wie auf dem Foto von 1956. Evelyn legte die Hände auf dem Tisch zusammen und bettete ihren Kopf darauf. Ihre Gedanken entschwanden. Ohne es zu wollen, träumte sie sich zu ihm an die spanische Küste der Sonne. Sie lief ihm entgegen, ohne vorwärtszukommen. Ihre Füße versanken bis zu den Knöcheln im heißen Sand, während sie sich vorankämpfte. Endlich fiel sie ihm in die Arme.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie. Der Wind brachte den Geruch des Meeres mit sich und trug ihre Worte davon. Sie schmeckte Salz auf ihren Lippen.
»Ich liebe dich.« Sie wiederholte es wie ein Gebet. Er streichelte ihre Wange, aber es waren fremde Berührungen, die sie erschreckten, gegen die sie sich mit allen Sinnen wehrte.
Evelyn wachte auf. Ihr schlaftrunkener
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